Gefahrliches Vermachtnis
es getan hat, und Clarence hatte Angst, dass er deshalb hinter mir her sein könnte. Also haben wir das Land verlassen und ich begann ein neues Leben.“
„Clarence Valentine. Daher der Name.“
„Was hat Phillip Ihnen über meinen Vater erzählt?“
Dawn schwieg, als ob sie lieber nicht preisgeben wollte, welche Schlüsse sie gezogen hatte.
„Hat er Ihnen erzählt, dass sie einander nicht vergessen konnten – auch nicht, nachdem mein Vater Aurores Familie ruiniert und mich aus ihren Armen gerissen hatte? Nicht mal, nachdem sie Henry Gerritsen geheiratet hatte?“
„Raphael und meine Großmutter?“
„Nicht Raphael – er nannte sich da schon Rafe. So erinnere ich mich an ihn. Phillip sagte, dass Aurore erst Jahre später entdeckte, warum mein Vater die Dinge getan hatte, die er getan hatte. Sie fand die Briefe, die Sie letzte Nacht gelesen haben, und sie fand die Wahrheit heraus. Zum ersten Mal verstand sie alles. Und sie verstand etwas noch Erschreckenderes: Trotz der vielen Jahre, die sie getrennt gewesen waren, trotz allem, was sie getan hatten, um sich gegenseitig zu verletzen – er liebte sie immer noch und sie liebte ihn.“ Nicky hob den Kopf. „Sie wussten beide, wie unmöglich diese Liebe war. Die ganze Welt stand zwischen ihnen, aber dennoch liebten sie sich, gegen alle Widerstände. Und deshalb hat mein Vater mich mitgenommen und die Stadt verlassen. Weil ihre Liebe für sie beide gefährlich war.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, flüsterte Dawn.
„Phillip hat mir erzählt, dass Aurore glaubte, ich sei mit meinem Vater bei diesem Aufstand getötet worden. Man hatte es ihr so erzählt, und ihre Nachforschungen schienen zu bestätigen, dass ich nicht überlebt hatte. Sie wusste nicht, dass ich damals in Paris war.“
Nicky hielt inne. Sie fragte sich, weshalb sie Dawn das alles erzählte, und sah der jungen Frau in die Augen.
Dawn griff vorsichtig nach Nickys Hand. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Grandmère Sie nicht geliebt hat, Nicky! Sie hätte ihr eigenes Kind niemals vergessen oder aufgehört, es zu lieben. Vielleicht glaubte sie, keine andere Wahl gehabt zu haben, aber sie fühlte sich ganz sicher schuldig. Das muss sie bis zum Tod beschäftigt haben. Deshalb konnte sie es Ihnen nicht selbst sagen.“
„Nein. Ich weiß, weshalb sie es mir nicht sagen konnte.“ Nicky wusste, dass Dawn von ihr erwartete, dass sie weitersprach, aber sie schaffte es nicht. Manche Dinge waren zu schrecklich, um sie laut auszusprechen. „Danke“, sagte sie leise. „Ich brauchte jemanden, der mir antworten konnte.“
Dawn zögerte, unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Dannbeugte sie sich vor und küsste Nicky auf die Wange.
Nachdem Dawn gegangen war, ging Nicky wieder zum Fenster und kühlte ihr Gesicht am Fenster. Sosehr sie sich auch darum bemüht hatte, ihre Vergangenheit zu vergessen – sie war ein Teil von ihr.
Sie tastete mit der Hand nach dem Medaillon, das warm auf ihrer Haut lag. „Ich weiß, weshalb du mir nichts erzählt hast, Aurore“, flüsterte sie. „Wie hättest du das auch tun sollen – nach allem, was danach geschah?“
7. KAPITEL
Paris, 1927
C hez les Américains war ein Nachtklub in der Rue Pigalle. Durch die verschlossenen Fenster drang kein Lichtstrahl. Vor einigen Jahren hatte man die Backsteinwände innen schwarz gestrichen und den Holzboden gebeizt. Der aktuelle Besitzer, der darauf hoffte, von reichen Amerikanern zu profitieren, hatte die Wände mit gerahmten Fotografien von Valentino und Pickfort, Landschaftsbildern und tapferen Indianern dekoriert. Von grellen Scheinwerfern beleuchtet, bot das laute, verräucherte Chez les Américains amerikanischen Landsleuten eigentlich wenig von dem, was sie begehrten.
Sie kamen trotzdem.
„Klar, kommen sie. Und so wird’s auch bleiben, Schätzchen“, sagte Clarence, während er auf einem Zigarrenstumpen herumkaute. „Sie kommen, um den besten Jazz von Paris zu hören. Hot Jazz – nicht diese gequirlte Hühnerkacke, die sie woanders zu hören bekommen.“
Nicky lehnte am Piano und beobachtete die Gäste. Clarence hatte nicht übertrieben. Die Clarence Valentine Band war die beste Band der Stadt.
Nicky vergötterte Clarence, seit sie ihn als kleines Mädchen das erste Mal spielen gehört hatte. Seitdem hatte sich ihr Leben drastisch verändert. Aus dem Mädchen Nicolette Cantrelle war eine Frau geworden und Nicky Valentine. Sie war von Chicago nach Paris gezogen und lebte jetzt bei Clarence
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