Gefallene Engel
Brevik. Wir sind uns letztens kurz begegnet.« – Genau.
»Gerade erst gestern«, sagte ich.
»Genau deshalb … Könnten wir uns treffen?«
»Ich habe heute vormittag eine Verabredung, die …«
»Wie wäre es mit heute nachmittag – oder heute abend?«
»Das hört sich an, als sei es eilig.«
»Ja, Veum. Das stimmt.« – Als wolle er mir erzählen, daß der Jüngste Tag nahte und er alle wichtigen Informationen habe. Aber ich hatte das Gefühl, daß es weitaus zeitgemäßere Gründe dafür gab, daß er mich anrief.
»Wir können uns doch in meinem Büro treffen, sagen wir um sechs Uhr?«
»Das ist – am Strandkai? Ich habe zuerst da angerufen.«
»Du hast also schon mit meinem Sekretär gesprochen?«
»Nein, ich …«
»Ich meine natürlich mit meinem Anrufbeantworter.«
»Ja. Genau. Das ist in Ordnung, Veum. Ich werde da sein.«
»Dann sehen wir uns.«
»Auf Wiedersehen, Veum. Auf Wiedersehen.«
Ich legte den Hörer auf, erledigte das morgendliche Ritual, machte ein paar vorsichtige Bewegungen mit dem linken Arm, braute mir eine Tasse Kaffee und blieb sitzen und dachte über die farbenfrohe Personengalerie nach, die ich in den letzten Tagen getroffen hatte, jeder mit seinen Geheimnissen.
Anita Solheim und ihre zwei Töchter: Ruth, der ich noch nicht begegnet war, und Sissel, die zum Konfirmandenunterricht ging – bei Berge Brevik.
Bente Solheim mit einem blauen Fleck auf der Wange und einem Engelbild im Postkasten.
Die alte Ingeborg Kløve mit der plötzlichen Erinnerung an ein entsprechendes Engelbild – und Halldis Heggøy, die den Engeln den Rücken gekehrt und sich anderen Mächten verschrieben hatte.
Rebecca – und Berge Brevik.
Jakob – und Berge Brevik.
Die Geister von Arild Hjellestad und Harry Kløve, zu früh gestorben, aber vielleicht nicht ohne Grund.
Die rätselhafte Belinda Brufåt, hin und her gerissen zwischen Bühnenshow und Bethaus.
Stig Madsen – noch eine Art Gespenst.
Und dann die kürzlich Verstorbenen: Jan Petter Olsen, der in gewisser Weise uns alle zusammengeführt hatte. Und Johnny Solheim, der dabei war, uns alle wieder auseinanderzutreiben.
Über ihnen allen lag der Schatten einer Bühnenshow.
Auf der Bühne standen die Harpers, undeutlich wie in einem Schattenbild, ohne Gesichter, als Silhouetten von siebzehn Jahren regelmäßiger Auftritte – am Schlagzeug, Arild Hjellestad; an der Baßgitarre, Harry Kløve; Sologitarre, später Orgel, Jakob Aasen; und Sologitarre und Gesang, Johnny Solheim … Applaus, Leute! Applaus …
Und dann begannen sie zu spielen … dann begannen sie zu spielen …
Sie spielten noch in meinem Kopf, als ich auf dem Bürgersteig vor dem Zeitungshaus parkte, auf die Uhr sah, und dann war sie da, Laila Mongstad, mit ihrem großen Lächeln, randvoll mit Zähnen, der glitzernden Dezembersonne in den goldumrandeten Brillengläsern, in einer kurzen, hellbraunen Lederjacke und abgetragenen Jeans, jugendlich stramm über ihrer generösen Hüftpartie, mit einem Fotoapparat, der schamlos und suggestiv zwischen den pulloverbedeckten Brüsten hing und einem diskreten Duft von Kiefernnadeln und Waldboden am Hals, als sie in den Wagen sprang, mich schnell umarmte und sagte: »Das ist ja phantastisch, Varg! Das du auch dahin mußt …«
Ich zuckte mit den Schultern. »Du weißt jedenfalls, wo es liegt. Dann brauch’ ich nicht blind in der Gegend rumzusuchen.«
»Du hast gesagt, du wolltest mit einer der Patientinnen sprechen?«
»Wenn sie da ist.«
»Wie heißt sie? Vielleicht …«
»Solheim. Ruth Solheim. Vierundzwanzig Jahre alt.«
Sie dachte nach. »Nein, ich glaube …« Dann lächelte sie wieder. »Und wir kriegen auch noch eine herrliche Fahrt, Varg. Bei diesem Licht!«
Sie hatte recht. Wir hatten eine herrliche Fahrt.
Durch Åsane lag der Rauhreif wie Brautschleier den Weg entlang, und der blauweiße, strahlende Himmel war durchsichtig, wie er es manchmal ist, bevor der Schnee fällt und sein Muster von erfrorenen Sternen auf das klare Glas legt.
Laila Mongstad gehörte zu den gesegneten Menschen, denen nie der Gesprächsstoff ausgeht, die aber trotzdem eine Pause mit freundlicher Stille füllen können. Wir redeten miteinander wie alte Freunde, und wir erwähnten unsere erste Begegnung nicht, als würde das unumgängliche Konsequenzen haben, als würde das automatisch dazu führen, daß unsere Beziehung ihren Charakter veränderte und uns eine von zwei Möglichkeiten blieb: direkt ins Bett zu gehen oder auseinander, zu
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