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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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nach ihrer Hand, griff aber zuerst daneben. Zögernd streckte sie mir eine Hand entgegen, und ich umfaßte sie, als sei sie ein Zaubermittel, das uns beide in der Zeit zurückversetzen würde, zu den Augenblicken, die vergangen waren.
    Sie saß da und sah mich ein paar Sekunden lang an. Dann faßte sie einen Beschluß, zog die Hand sanft zurück, stand auf und sagte: »Ich glaube, ich hol’ mal eine Flasche Wein, oder?«
    Ich nickte, und sie ging in die Küche. Einen Augenblick lang war ich allein. In der Fensterscheibe konnte ich meine eigene hohe Stirn sehen, das nach hinten und zur Seite gekämmte, blonde Haar, und – dadurch hindurch – die Fenster zum Hof der Häuser auf der anderen Seite. Wie ein beleuchtetes Schachbrett brachen sie in die Konturen meines Gesichtes ein. Sie kam zurück, mit zwei Gläsern und einer Flasche. Sie stellte die Gläser auf den Schreibtisch, schob die Bücher beiseite und schenkte den Rotwein ein. Das scharfe Licht ließ den Wein schimmern wie rotgefärbtes Glas: eine Glasmalerei, dominiert von Blut.
    Dann reichte sie mir das eine Glas, prostete mir stumm zu – und wir tranken. Der Geschmack des Weines ließ meinen Gaumen sich einen Augenblick zusammenziehen, und ich fühlte, wie er sich wie eine sehr, sehr dünne Haut auf meine Zähne legte.
    »Die ich einmal war«, sagte sie nachdenklich vor sich hin.
    Ich öffnete den Mund, aber sie machte eine abwehrende Handbewegung und fuhr fort: »Wie lange glaubst du, tragen wir die Vergangenheit mit uns herum? – Wir sind ja tatsächlich nicht mehr dieselben. Alle Zellen sind ausgetauscht. Medizinisch betrachtet, oder physiologisch, bin ich eine ganz andere Rebecca als die, die du damals gesehen hast. Jede einzelne Batterie ist ausgetauscht, der Lack hat den Glanz verloren, das Haar …« Sie griff sich an den Kopf. »Ein ganz neuer Mensch. – Du kennst mich nicht mehr!«
    »Dann ist es jedenfalls eine verdammt gute Kopie«, sagte ich. »Deine Stimme hört sich immer noch genauso an. Die Augen, wenn ich mich vorbeugte und … dich küßte …«
    Sie hob das Glas an die Lippen, wie um zu zeigen, daß sie besetzt waren. »Ja?«
    Ich hob hilflos die Hände. »Du bist dieselbe Rebecca. – Mit einem halben Leben an Erfahrungen, vielleicht mehr … Mit vielen neuen Erinnerungen. Aber trotzdem … meine Rebecca.«
    »Deine?«
    »Ja? – Du hast mir einmal etwas bedeutet, Rebecca.«
    Sie sah plötzlich wieder an mir vorbei und begann an einer anderen Stelle: »Die Kindheit ist irgendwie – ein eigenes Land. Ein Dasein, in dem wir uns umherbewegen, unschuldig und unwissend. Wie – ja, wie kleine Engel. Aber dann werden wir erwachsen …«
    »Essen die Früchte vom Baum der Erkenntnis …«
    »Ja, vielleicht.«
    »Und werden vertrieben …«
    »Oder hineingetrieben. – Für mich war erwachsen zu werden – mich in Jakob zu verlieben. Es geschah gleichzeitig.«
    Ich war stumm.
    Sie fuhr fort. »Ich … es war ja so merkwürdig. Ich hatte euch beide gekannt, von Nordnes draußen. Dann traf ich euch wieder nach ein paar Jahren, auf dem Gymnasium. Aber noch immer passierte nichts.«
    Ich lächelte schief. »Erinnerst du dich noch? Wir diskutierten stundenlang, wer Kains Frau war.«
    Sie sah mich zerstreut an. »Lilith, oder?«
    »Hast du jetzt also auch angefangen, apokryphe Schriften zu lesen? – In der Bibel steht nur, daß Kain in ein Land zog, Nod, das östlich von Eden lag, und sich dort eine Frau nahm. Aber es steht nichts darüber, wer diese Frau war.«
    »Nein.« Sie war noch immer nicht ganz bei der Sache.
    »Und wenn Adam und Eva die ersten und einzigen Menschen auf der Erde waren, dann konnte es keine Frau von Kain gegeben haben im Lande Nod, wenn es nicht seine eigene, fortgelaufene Schwester war. – Das war natürlich eine Art Erklärung, aber gleichzeitig äußerst wenig akzeptabel in den Kreisen, aus denen du kamst. Sollten tatsächlich Bruder und Schwester … Allerdings kam ja hinterher die Sintflut, aber trotzdem …«
    »Ich dachte, heute hätten die meisten akzeptiert, das das Mythen sind, phantastische Mythen, aber Mythen? Daß Adam und Eva sicher nicht allein waren, daß Menschen wie sie sowohl in Nod als auch an anderen Orten lebten, in Asien und Afrika, und Tiere in Amerika, lange bevor Adam und Eva – Kinder waren.«
    »Ja, sicher. Aber denk doch mal an all die Diskussionen, die uns entgangen sind!«
    Sie riß sich los. »Jedenfalls. Danach war ich mit ein paar anderen zusammen, ganz oberflächlich, noch immer, ohne

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