Gefallene Engel
eine Decke gehüllt. Obwohl ich es nicht will, gehe ich in diese Richtung weiter. Immerhin wirkt das Feuer warm, und sonst gibt es hier nichts, wohin ich gehen könnte.
Das Tor ist geschlossen.
Das klingt falsch, wie etwas, von dem ich irgendwie weiß, dass es nicht stimmen kann.
Trotzdem…
Während ich mich nähere, wächst meine Unruhe. Die kauernde Gestalt bewegt sich nicht und reagiert auch sonst nicht auf meine Anwesenheit. Zuvor hatte ich mir Sorgen gemacht, dass diese Person mir gegenüber feindselig eingestellt sein könnte, aber nun verflüchtigen sich diese Bedenken und weichen der Befürchtung, dass es jemand ist, den ich kenne, jemand, der tot ist…
Wie alle, die ich gekannt habe.
Hinter der Gestalt am Feuer erhebt sich ein Gebilde aus dem Sand, ein riesiges skeletthaftes Kreuz, an das jemand lose gefesselt ist. Im Wind und dem nadelfeinen Schneeregen, den er vor sich her treibt, kann ich nicht genau erkennen, was für ein Objekt es ist.
Jetzt heult der Wind klagend, wie etwas, das ich schon einmal gehört habe, vor dem ich große Angst hatte.
Ich erreiche das Feuer und spüre den Schwall der Wärme über mein Gesicht streichen. Ich ziehe die Hände aus den Taschen und strecke sie aus.
Die Gestalt rührt sich. Ich versuche, nicht darauf zu achten. Ich will das nicht.
»Ach – der Büßer.«
Semetaire. Sein sardonischer Tonfall ist verschwunden; vielleicht glaubt er, dass er ihn nicht mehr nötig hat. Stattdessen etwas, das beinahe wie Mitgefühl klingt. Die großherzige Wärme von jemandem, der ein Spiel gewonnen hat, an dessen Ausgang er nie ernsthaft gezweifelt hat.
»Wie bitte?«
Er lacht. »Wie drollig. Warum kniest du nicht vor dem Feuer nieder? Dort ist es wärmer.«
»So kalt ist mir nicht«, sage ich zitternd und riskiere einen Blick in sein Gesicht. Seine Augen glitzern im Feuerschein. Er weiß.
»Du hast lange gebraucht, um hierher zu kommen, Wedge-Wolf«, sagt er freundlich. » Wir können auch noch etwas länger warten.«
Ich blickte durch meine gespreizten Finger auf die Flammen. »Was willst du von mir, Semetaire?«
»Ach, komm schon. Was ich will? Du weißt, was ich will.« Er schüttelt die Decke ab und erhebt sich anmutig. Er ist größer, als ich mich erinnere, eine elegante Bedrohung in seinem zerlumpten schwarzen Mantel. Er setzt sich den Zylinder schief auf den Kopf. »Ich will dasselbe wie alle anderen.«
»Und was ist das?« Ich deute mit einem Nicken auf das gekreuzigte Ding hinter ihm.
»Das?« Zum ersten Mal scheint er ein wenig die Fassung zu verlieren. Vielleicht eine gewisse Verlegenheit. »Das ist… nun ja… sagen wir einfach, das wäre eine Alternative. Das heißt, eine Alternative für dich, aber ich glaube kaum, dass du…«
Ich blicke zum Gebilde hinauf, und plötzlich ist es einfacher, durch Wind, Schneeregen und Fallout etwas zu erkennen.
Das bin ich.
Gehalten von Bandagen aus Netzen, totes graues Fleisch in die Lücken zwischen den Fäden gequetscht, der Körper schlaff von der starren Struktur des Gerüsts hängend, der Kopf auf die Brust gekippt. Die Möwen haben sich über mein Gesicht hergemacht. Die Augenhöhlen sind leer und die Wangen zerfetzt. Auf der Stirn tritt stellenweise der Schädelknochen hervor.
Es muss, denke ich distanziert, sehr kalt da oben sein.
»Ich habe dich gewarnt.« Eine Spur des alten Spotts kehrt in seine Stimme zurück. Er wird ungeduldig. »Es ist eine Alternative, aber ich glaube, du wirst mir zustimmen, dass es hier unten am Feuer viel gemütlicher ist. Und hier ist das.«
Er öffnet eine knochige Hand und zeigt mir einen kortikalen Stack, an dem noch frisches Blut und Gewebereste kleben. Ich lege eine Hand an mein Genick und spüre dort ein tiefes Loch, eine klaffende Lücke an meiner Schädelbasis, in die meine Finger mit erschreckender Leichtigkeit gleiten. Tief im Innern der Wunde ertaste ich die feuchte, schwammige Masse meines Gehirns.
»Siehst du?«, sagt er in fast bedauerndem Tonfall.
Ich ziehe die Finger wieder heraus. » Woher hast du das, Semetaire?«
»Ach, es ist nicht schwer, an so etwas heranzukommen. Vor allem auf Sanction IV.«
»Hast du auch Cruickshanks?«, frage ich ihn mit plötzlich aufkeimender Hoffnung.
Er zögert einen Sekundenbruchteil. »Aber natürlich. Sie alle kommen früher oder später zu mir.« Er nickt nachdenklich. »Früher oder später.«
Die Wiederholung klingt gezwungen. Als würde er sich selbst davon überzeugen wollen. Ich spüre, wie die Hoffnung wieder
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