Gefallene Sonnen
viele Fragen vor mir, und jede Antwort, auf die ich trete, scheint eine Falltür zu sein.«
Die faltigen, blutleeren Lippen der früheren Sprecherin formten ein mattes Lächeln. »Überlass die Metaphern den Leuten, die etwas davon verstehen, Cesca.«
»Ich fühle mich eher zur Dichterin geboren als dazu, die Verantwortung eines politischen Oberhaupts wahrzunehmen.« Cesca atmete tief durch. »Was für ein Durcheinander! Wie soll ich mich mit den Roamer-Clans treffen? Die Stationen und Siedlungen sind so weit verstreut… Wie kann ich sie alle benachrichtigen und ein Treffen organisieren? Und wo sollte es stattfinden? Wir sind jetzt alle geächtet. Ist es nicht zu gefährlich, die Familien an einem Ort zusammenzubringen? Was ist, wenn die Hanse bereits über unsere Treffpunkte Bescheid weiß?« Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch.
»Werd nicht ungeduldig. Übereilte Entscheidungen sind oft falsch.« Jhy Okiah klopfte Cesca auf den Arm. »Die Zerstörung von Rendezvous dauerte nur einige Minuten, aber viel mehr Zeit ist nötig, um die Clans wieder zusammenzubringen. Richte eine Botschaft an sie. Schließlich werden alle davon erfahren.«
»Aber ich muss doch etwas tun. Ich möchte die Clans um mich scharen, ihnen neuen Mut machen, ihnen sagen, dass sie nicht aufgeben sollen. Ich bin die Sprecherin. Sollte ich nicht zur Erde reisen und Entschädigung verlangen?«
»Man würde dich verhaften und als politische Gefangene festhalten.«
Cesca trank Tee, ohne ihn zu schmecken, nur um sich abzulenken. »Ich sollte wenigstens nach Rendezvous fliegen und das Ausmaß der Schäden feststellen. Vielleicht gibt es noch etwas zu retten.«
»Die verdammten Tiwis haben unseren zentralen Ort und unsere Geschichte gestohlen.« Tränen erschienen in Jhy Okiahs Augen, und sie holte tief Luft. »Mein Timing ist schlecht, Cesca. Ich hätte früher sterben sollen, damals, als du noch mit allem gut zurechtgekommen bist.«
»Sprich nicht vom Sterben«, sagte Cesca. »Du musst lange genug am Leben bleiben, um zu sehen, wie dies alles endet.«
Jhy Okiah saß auf dem Bett und drückte Cescas Hand mit erstaunlich viel Kraft. »Es ist nicht gut für dich, dass du dich immer auf mich verlässt. Du musst selbst die Lösungen für all die Probleme finden.« Die alte Frau seufzte. »Ich wünschte, Kotto wäre hier. Ihm fallen immer Lösungen ein.«
»Meistens verrückte«, sagte Cesca und lachte kurz.
»Aber es sind trotzdem Lösungen.« Jhy Okiah stellte die Tasse auf ein kleines Regal und sah wieder durch das Fenster ganz oben, als wollte sie die verstreuten Diamanten der fernen Sterne zählen. Plötzlich lächelte sie und hob die Hand. »Oh, sieh nur. Mein Leitstern!«
Cesca blickte auf, aber für sie sahen alle Sterne gleich aus. Jhy Okiahs sehnige Hand sank nach unten, und als Cesca den Kopf drehte, stellte sie fest: Das Licht in den Augen der früheren Sprecherin war erloschen.
9 JESS TAMBLYN
Umgeben von seinem schimmernden Schiff und geschützt von der Macht der Wentals sank Jess in die Tiefen des Gasriesen Golgen. Er hatte die Wasserentitäten gebeten, ihn hierher zu bringen, denn er wollte mit eigenen Augen sehen, was er mit seinem ersten Schlag gegen die Hydroger bewirkt hatte.
Sein sonderbares Schiff glitt durch faserige Wolken und starke Winde. Dunstschwaden strichen über die Außenhülle. Apokalyptische Stürme peitschten durch die Hochdruckmeere der verdichteten Atmosphäre, die einst Heimat der Hydroger gewesen waren. Vor sieben Jahren hatte ihnen Jess als forscher, rachsüchtiger Mensch einen tödlichen Schlag versetzt.
Zusammen mit den Clan-Technikern von Plumas hatte er Kometen als kosmische Geschosse eingesetzt und auf den Planeten hinabstürzen lassen. Sie waren wie göttliche Hammerschläge gewesen und hatten mehr Zerstörungskraft entwickelt als die stärksten thermonuklearen Bomben.
Der Gasriese trug noch immer die Flecken jener Katastrophe, wie brandige Wunden. Die vergangenen Jahre hatten nicht genügt, um das Chaos aus der Atmosphäre verschwinden zu lassen. Die Folgen des Kometenbombardements würden sich noch jahrzehntelang bemerkbar machen. Der nach wie vor zornige menschliche Teil von Jess Tamblyn nahm das mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Er sah darin angemessene Rache für den Tod von Ross und die Zerstörung der Blauen Himmelsmine.
Während er in Gedanken noch bei seinen damaligen Bemühungen weilte, die Hydroger zu besiegen, empfing er plötzlich Bilder von den Wentals, Nachrichten, die die
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