Gefangen (German Edition)
zum Boden. Für einen Moment war sie einfach nur erstarrt, wie tot, doch dann löste sich die Anspannung und sie brach völlig aufgelöst in Tränen aus. Ihr Körper wurde von wilden Krämpfen geschüttelt, sie wimmerte, war nicht einmal mehr fähig zu schreien. Sie schlang die Arme um sich, wiegte sich minutenlang in stupider Bewegung auf und ab, von Scham und Selbstmitleid überwältigt, ehe sie es schaffte, sich aufzurappeln und das Zimmer zu verlassen.
Tränenüberströmt stürzte Delia in den Schmink- und Umkleideraum, riss ihre Kleidung vom Bügel und begann sich hastig anzuziehen. Ann starrte entsetzt auf ihre gerötete Haut, die über und über mit Striemen bedeckt war, die teilweise bluteten, und sprang auf. Sie war gerade dabei gewesen, ihre Haare frisch zu frisieren, als Delia die Tür aufgerissen hatte und hereingestürmt war.
«Was ist denn passiert?»
Doch Delia schüttelte den Kopf. Sie wollte mit niemandem reden, nur noch fort.
Ann eilte auf der Suche nach Max und Mona hinaus und kehrte gerade rechtzeitig mit Max zurück, bevor Delia auf und davon gerannt wäre. Max erfasste die Lage sofort. Er packte Delia am Arm und zog sie trotz ihrer Gegenwehr mit sich fort in sein Büro. Erst dann nahm er sie vorsichtig in seine Arme und sprach leise tröstend auf sie ein. Etwas Schreckliches musste geschehen sein, und er war sich nicht sicher, wie viel er davon erfahren wollte. Langsam beruhigte sie sich ein wenig und ihr Zittern ließ nach. Er drückte sie in einen Sessel und gab ihr ein Glas Wasser.
«War es so schlimm?», fragte er und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Delias derangiertes Aussehen hatte ihn jedoch zutiefst erschreckt. «Möchtest du darüber reden? Brauchst du einen Arzt?»
Delia schüttelte heftig den Kopf.
«Zieh deine Bluse aus, wir müssen dich verarzten!»
Erneut lehnte Delia ab. Erst Mona, die inzwischen von Ann informiert worden war, gelang es, sie zu überreden, sich die Wunden wenigstens desinfizieren zu lassen. Sie verarztete Delias Rücken notdürftig, denn mehr ließ Delia nicht zu. Es war ihr egal, ob ihre Bluse blutverschmiert würde. Sie wollte nur noch weg, nach Hause. Mona half ihr in die Bluse, dann stand Delia auf, reichte erst Mona, dann Max stumm die Hand, schaute ihn kurz vorwurfsvoll unter ihren vom Weinen geröteten und etwas zugeschwollenen Lidern an und murmelte nur: «Nie wieder. Nie! Leb wohl.» Dann verließ sie fluchtartig das Bordell.
Max wusste, Delias Seele war tief verletzt worden, und diese Wunden waren schlimmer als die körperlichen und würden vielleicht nie mehr heilen. Die anderen Frauen hatten Lennarts Wutanfälle gelassener ertragen, sie waren eben doch einiges gewohnt. Seufzend goss er sich ein Glas Sherry ein und ließ sich in seinen Bürostuhl fallen. Er konnte sich keine Gewissensbisse leisten. In diesem Geschäft ging es nun mal manchmal etwas derber zu.
Delia weinte hemmungslos. Sie gab sich keine Mühe, ihre Tränen mit einem Taschentuch aufzufangen, schnäuzte sich nur ab und an. Ihre Nase schwoll allmählich zu. Im Laufschritt überquerte sie die Straße, gelangte endlich zu ihrem geparkten Auto, kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel und fand ihn endlich. Sie drückte auf den Knopf und die Automatik gab die Türverriegelung frei.
Der Schatten, der ihr unauffällig gefolgt war, war auf der anderen Straßenseite stehen geblieben. Lautlos flüsterten seine Lippen ihren Namen vor sich hin, wieder und wieder, Delia, meine Delia. Dann drehte er sich um und verschwand wie ein Schatten in der Nacht.
Kapitel 11
Man nannte es allgemein die «Hurenmeile». Eigentlich war es eine ganz normale kleine Ausfallstraße, raus aus dem Ort, bald darauf freie Fahrt durch die Landschaft. Aber seitdem die Umgehungsstraße gebaut worden war und der Autoverkehr rapide abgenommen hatte, hatte sich hier eine andere Form von Verkehr entwickelt. Zum Leidwesen der Anwohner in den angrenzenden Wohngebieten, die diesen Zustand noch schlimmer fanden als den vorangegangenen, aber nicht dagegen ankamen. Polizei her oder hin. Kaum waren die gerufenen Ordnungshüter abgezogen und hatten die Prostituierten verscheucht, waren sie schon wieder da.
Lennart fuhr langsam. Er suchte einen ganz bestimmten Typ Frau. Eine, die der Frau auf dem Bild des Personalausweises ähnlich sah. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sie schon einmal in dieser Arztpraxis gewesen war. Aber er wollte auf Nummer sicher gehen, falls jemand mit dem Namen ein bestimmtes
Weitere Kostenlose Bücher