Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
schritten.
Als ich mich zu dem jungen Paar umdrehte, entdeckte ich Leos unverwechselbare Silhouette in einer der letzten Bänke.
Er war allein, sang aber laut und unverdrossen: »Großer Gott, wir loben dich!«
Die Reutlinger drehten sich nach ihm um und schauten schnell wieder weg.
Mit diesem Mann wollten sie nichts mehr zu tun haben.
Die Hochzeit war ein einziger Traum. Angefangen von der Sängerin, die wunderschön das Ave Maria sang, bis hin zu den Kindern, die Blumen warfen: Es sollte dem jungen Paar an nichts fehlen. Der Champagner floss in Strömen. Meine raffiniert dekorierten Platten waren ebenso Gesprächsthema wie die Kleider und Kostüme, die aus meinem Laden stammten… Wir tanzten und lachten bis in die frühen Morgenstunden.
Dann brach ich ohnmächtig zusammen.
29
Jürgen Bruns führte mich an der Hand durch den dunklen Tannenwald zurück in die Klinik. Unsere Schritte knirschten im Schnee. Wir waren in das neue Jahr getanzt: 1987.
Den Rest meiner Geschichte kannte Jürgen ja längst: dass ich mit Blaulicht in die nächste Klinik gekommen war. Dass man bei mir chronische Unterernährung, Schlaflosigkeit, Herz- und Kreislaufprobleme diagnostiziert hatte – eben das, was man heute »Burn-out-Syndrom« nennt. Und dass man mich quasi in letzter Sekunde vor dem Erschöpfungstod gerettet hatte.
»Jetzt verstehe ich, warum du dich einfach nicht wieder binden willst.«
Schweigend gingen wir weiter. Dankbar sog ich die klare würzige Luft ein. Es war zehn vor eins, und um eins sollten wir in unseren Zimmern sein. Tatsächlich waren wir auf die Minute pünktlich. Auf Jürgen war eben Verlass.
»Jürgen, es war ein wunderschöner Abend. Ich war lange nicht mehr so glücklich.«
»Das freut mich, Gerti. Mir geht es genauso. Ich möchte dir alle Zeit der Welt lassen und dich niemals bedrängen. Das verspreche ich dir.«
Mit einem liebevollen Gutenachtkuss verabschiedete sich Jürgen vor meiner Zimmertür. »Wenn es jemals wieder eine Frau in meinem Leben geben wird, dann du. Aber ich kann warten. Schlaf gut, kleiner Engel.«
Vier Wochen später fuhr Jürgen ab. Ich selbst hatte noch weitere sechs Wochen Kur vor mir. Wir waren unzertrennlich gewesen, das »Klinik-Liebespaar«, wie die anderen Patienten uns augenzwinkernd nannten. So viel gelacht und herumgealbert hatte ich noch nie im Leben. Aber auch noch nie so viele tief gehende Gespräche geführt.
Wir waren tanzen gegangen, ins Theater, ins Kino. Wir waren gewandert, mal mit den anderen Patientinnen und Patienten, oft genug aber auch nur zu zweit. Wir hatten es einfach nur schön gehabt.
Aber jetzt war er wieder nach Göttingen, in sein altes Leben zurückgekehrt. Und wieder stand ich vor einem leeren Zimmer, und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wieder schaute ich der Hausbesorgerin Ursula beim Bettenmachen zu.
»Na, Frau Wölfchen? Wollen Sie mir helfen? Aber Frau Wölfchen, Frau Wölfchen, Sie weinen ja!«
»Ach, es ist nichts … « Hastig wischte ich mir die Tränen weg. »Wenn Sie mich mithelfen lassen, höre ich sofort auf zu heulen!« Selbstmitleid war meine Sache nicht.
»Sie können den Schrank auswischen!« Frau Ursula zeigte auf einen Lappen. Ich öffnete den Schrank. Nichts als Leere. Sofort musste ich wieder an Afrika denken. Der leere Schrank. Nur noch der Schirm hatte darin gestanden. Ich kniff die Augen zusammen. Was war denn das da hinten? Ich griff danach. Es war mein Weihnachtsgesteck, das ich damals für »J. Bruns« gebastelt hatte! Die Kerze war bis auf einen roten Stummel heruntergebrannt. Die Tannennadeln rieselten sofort auf den Boden. Blieb nur noch der kleine Engel aus Gips. Ratlos drehte ich ihn in den Händen.
Wie hatte Jürgen Bruns mich genannt? Mein kleiner Engel. Plötzlich erfasste mich eine ungeheure Sehnsucht.
»Sie vermissen ihn, was?« Ursula schüttelte energisch den Bettvorleger aus.
»Er hat versprochen anzurufen, wenn er angekommen ist.« Ich sah auf die Uhr. »Oh, es müsste jetzt jede Minute so weit sein!«
»Tschüs, Frau Wölfchen, und nehmen Sie es nicht zu schwer!«, rief die gutmütige Ursula hinter mir her. »Ich hab hier schon so viele Kurschatten kommen und gehen sehen, aber irgendwann kehrt wieder der Alltag ein.«
Rauchend wartete ich neben dem Telefon. Spätestens um zwanzig Uhr wollte er mich anrufen. Kurschatten!, hallte es mir in den Ohren. Kommen und gehen. Was sollte das bedeuten? Dass ich die Sache mit Jürgen nicht so ernst nehmen sollte?
Ja, bestimmt hatte ich der
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