Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
Sache viel zu viel Bedeutung beigemessen. So eine Kur ist doch letztlich ein Ausnahmezustand. Da ist man empfänglich für neue Begegnungen. Man öffnet sich, hat Zeit füreinander. Aber der Alltag sieht anders aus.
Ich wusste zwar, dass er geschieden war, aber bestimmt war er jetzt bei irgendwem, der – oder die? – auf ihn gewartet hatte. Ich sah schon Frauenhände seinen Koffer auspacken, seine Wäsche waschen. Ich sah Frauenhände, die ihn umarmten.
Autsch! Dieser Gedanke tat richtig weh. Ich würde mich doch nicht … Ich wollte mich doch nicht … Ich war doch so stolz auf meine Selbstständigkeit, wollte sie mir nie wieder nehmen lassen!
Frau Ursula hatte recht. Ich durfte mich da jetzt nicht reinsteigern. Aber warum tat ich es dann? Ich konnte nicht mehr stillsitzen. Ich ging zum Fenster, sah in die Nacht hinaus. Es würde ihm doch nichts zugestoßen sein?
Der Zeiger der Wanduhr schlich einfach weiter. Es war schon zwanzig nach acht. Nervös steckte ich mir die nächste Zigarette an. Ich legte mich aufs Bett, schloss die Augen und ließ all die wunderschönen Momente Revue passieren, die wir miteinander erlebt hatten. Die vertrauten Gespräche. Das erste Händchenhalten im Gruppenraum. Sein erster Gutenachtkuss. Sein erster Besuch auf meinem Zimmer. Meine Abwehrhaltung, als er mehr wollte. Meine Bitte um Geduld. Sein Verständnis dafür. Sein jungenhaftes Lachen, wenn wir den anderen Streiche gespielt hatten. Sein stolzer Blick, wenn er mit mir tanzte. Warum rief er dann nicht an? Er konnte mich doch nicht jetzt schon vergessen haben?
Um Viertel vor neun begann mein Puls zu rasen. Ich zog an meiner x-ten Zigarette. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder er war auf der Autobahn verunglückt und lag jetzt im Straßengraben. Oder aber er hatte mich belogen! Er liebte mich nicht! Er hatte nur mit mir gespielt, zum Zeitvertreib! Und lag jetzt in den Armen einer anderen Frau.
Ich wusste nicht, was schlimmer war.
Verstört wiegte ich mich mit dem Oberkörper vor und zurück. Vom Dorfkirchturm schlug es neun. Ich bin selbstständig, ich bin unabhängig, ich lebe mein Leben!, sagte ich mir immer wieder vor.
Frau Ursula steckte ihren Kopf zur Tür herein: »Und?«
Ich zuckte nur schweigend die Achseln.
»Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein?«
Ich klammerte mich an mein Kopfkissen.
»Gehen Sie ins Bett, Frau Wölfchen. Morgen wissen wir mehr!«
Gehorsam schlüpfte ich unter die Decke, lauschte auf mein Herzklopfen, auf das Ticken der Uhr. Ich traute mich nicht in den Raucherraum. Er könnte ja in der Zwischenzeit anrufen! Also rauchte ich, obwohl das strengstens verboten war, im Bett. Lieber Gott!, betete ich verzweifelt, ich glaube, ich liebe diesen Menschen! Bitte lass ihm nichts passiert sein! Und wenn er mich angelogen und benutzt hat … Noch einmal stehe ich das nicht durch.
So weinte ich mich in den Schlaf.
Mitten in der Nacht schrillte das Telefon auf meinem Nachttisch. Benommen griff ich nach dem Hörer. Vor lauter Herzklopfen konnte ich gar nichts hören.
»Liebling, ich bin’s«, sagte Jürgen dicht an meinem Ohr. »Entschuldige, dass ich dich so spät noch störe, aber ich hatte eine Panne und komme erst jetzt nach Hause!«
Ich war so erleichtert, dass ich nur noch schluchzen konnte.
»Mein kleiner Engel, was ist denn? Geht es dir nicht gut? Es tut mir so leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe. Du weinst, Liebling, heißt das, du liebst mich auch?«
»Ja«, schluchzte ich. »Ich liebe dich auch!«
Schon am nächsten Wochenende war Jürgen wieder da. Und an den kommenden Wochenenden auch. Das waren jedes Mal vier Stunden Autofahrt, und er durfte auch nicht mehr in der Klinik übernachten. Er nahm sich ein Zimmer im Dorf, nur um in meiner Nähe zu sein. In diesem Zimmer kamen wir uns zum ersten Mal richtig nahe, und ich erlebte Dinge, die ich mit Leo Wolf nicht ein einziges Mal erlebt hatte. Dass es so etwas überhaupt gab! Nun war es endgültig um mich geschehen, nur mein Verstand wehrte sich noch vehement dagegen, dass ich meine Eigenständigkeit aufgab.
Wir unternahmen noch viele Spaziergänge, redeten über eine mögliche gemeinsame Zukunft, wogen ab, wer zu wem ziehen könnte, wer seinen Job zugunsten des anderen aufgeben sollte. Würde ich es schaffen, vierhundert Kilometer weit von meinen Söhnen fortzuziehen? Jürgen war über fünfzig, ein beruflicher Neuanfang in Reutlingen war für ihn so gut wie unmöglich. Doch was sollte ich in Göttingen anfangen? Hätte ich
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