Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
fiel.
Mein Bernd war weg.
Drei zu eins, dachte ich. Drei zu zwei, nein drei zu drei: Motorrad, Villa, Reise. Dagegen kam ich nicht an. Innerhalb von fünf Minuten war meine jahrelange Knochenarbeit völlig umsonst gewesen. Nun hatte ich nur noch Thomas. Aber wie lange noch?
Als Thomas vom Fußballplatz nach Hause kam, saß ich immer noch im Mantel in der Küche. Sein Blick glitt über die unausgepackten Einkäufe.
»Wieso ist das Essen nicht fertig?« Hungrig griff er in eine Tüte, zog einen Apfel heraus und biss hinein. »Und wo ist Bernd? Er wollte doch nachkommen! Er hat in meiner Mannschaft gefehlt, so ein Mist! Wir haben verloren!«
»Er ist zu seinem Vater gezogen.«
»Was? Und das hast du erlaubt?«
Thomas kickte seine Fußballschuhe in die Ecke. »Wenn der Bernd das darf, will ich das auch!«
Müde schaute ich zu meinem fünfzehnjährigen Sohn hoch, dessen Haar nach dem Training in alle Himmelsrichtungen abstand. Wie gern hätte ich ihm einmal über den Kopf gestrichen, wusste aber, dass das absolut unmöglich war.
»Thomas, du musst bei mir bleiben, sonst habe ich doch niemanden mehr!«
»Mama, das ist voll ungerecht! Ich will auch zu Papa! Er hat gesagt, wenn ich zu ihm ziehe, bekomme ich ein Moped!«
»Du bist ja noch nicht mal sechzehn!«, wandte ich müde ein.
»Aber ich werde sechzehn, und wenn der Bernd vor seinem Geburtstag gehen durfte, will ich das auch!«
»Und wie es mir damit geht, ist dir egal?«
»Och, Mama! Jetzt mach doch nicht einen auf Mitleid! Du hast doch sowieso keine Zeit! Du bist doch mit deinem Weibermodekram beschäftigt!«
»Und wenn ich mir ab sofort mehr Zeit nehme?«, wimmerte ich wie ein Kind.
»Kriege ich von dir trotzdem kein Moped.« Thomas biss krachend in den Apfel.
»Nein«, sagte ich leise. »Und zwar weil ich Angst um dich hätte. Bernds schrecklichen Unfall habe ich noch nicht vergessen.«
»Und deshalb muss ich ein Weichei sein, oder was?!« Thomas zielte mit dem Apfelstrunk auf den Abfalleimer. Er landete natürlich an der sauberen Wand.
Ein Wort gab das andere. Ich appellierte an seine Vernunft, an seine Loyalität – vergeblich.
»Der Papa ist cool, er hat Zeit für uns, er hat eine Villa, er schenkt mir ein Moped, und wo Bernd ist, da will ich auch sein.«
Eine halbe Stunde später war auch Thomas weg.
Wie ein Roboter arbeitete ich weiterhin in meinem Kinder- und Damenmodengeschäft. Nun blieb ich abends bewusst bis nach zweiundzwanzig Uhr im Laden, zu Hause wartete schließlich niemand mehr auf mich. Meine Kundinnen wussten das sehr zu schätzen, und natürlich auch Ralf Meerkötter, mein Chef. Während der Arbeit dachte ich unermüdlich an meine Jungs, die nun motorisiert unterwegs waren. Ich betete, dass ihnen nichts passierte, denn das würde ich nicht noch einmal überleben. Wenn sich zwei Polizisten dem Laden näherten, glaubte ich, der Boden unter meinen Füßen täte sich auf. Wenn ein Martinshorn zu hören war, blieb mir fast das Herz stehen. Abends fuhr ich zurück in meine leere Wohnung. Niemand hatte nasse Handtücher auf die Erde geworfen, in der Spüle standen keine schmutzigen Teller, alles war genauso unberührt wie morgens, wenn ich das Haus verließ! Das Essen gewöhnte ich mir endgültig ab. Es lohnte sich einfach nicht, nur für mich selbst einzukaufen und zu kochen. Ich ernährte mich von Kaffee und Zigaretten.
Es war eine trostlose, fürchterliche Zeit. Einmal bediente ich die Witwe, die Leo geheiratet hatte, im Laden. Sie brauchte ein Kleid in Größe vierundvierzig. Vorsichtig erkundigte ich mich nach den Jungen.
»Es geht ihnen bestens«, sagte sie. »Haben Sie das Kleid auch in Größe 46?«
Meine Mutter hatte Krebs und konnte sich nun nicht mehr selbst versorgen.
Meine Schwester Sieglinde nahm sie bei sich auf. Sie hatte inzwischen vier halbwüchsige Kinder und arbeitete in der Bäckerei, und ich kam fast um vor schlechtem Gewissen.
Aber ich konnte mich unmöglich um meine Mutter kümmern, nicht bei meinem Beruf.
»Sieglinde, du hast bei mir was gut«, sagte ich beschämt ins Telefon. »Danke, dass du dich um die Mama kümmerst.«
Nach einem halben Jahr bimmelte die Glocke an der Ladentür, und mein großer erwachsener Bernd stand in Motorradkluft vor mir. Sein Gesichtsausdruck war ernst und bedrückt.
Bitte, lieber Gott, ging es mir durch den Kopf. Bitte lass jetzt nichts mit Thomas sein!
»Die Oma liegt im Sterben!«
»Welche Oma?«
»Die Oma aus Glatten. Tante Sieglinde hat in der Wohnung angerufen,
Weitere Kostenlose Bücher