Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
fast zärtlich an den Fransen meiner Wolldecke.
»Ich … ich weiß gar nicht … Nein, ich glaube nichts Schönes.«
»Dabei ist doch nächste Woche Weihnachten! Ihr Gesteck steht übrigens auf meinem Nachttisch. Sobald das große Licht gelöscht ist, zünde ich immer noch für ein Viertelstündchen die rote Kerze an.«
Jürgen Bruns sah mich lächelnd an.
»Nur ein Viertelstündchen?« Ich griff nach dem Glas Wasser neben mir, weil ich einen ganz trockenen Mund hatte.
»Ja, denn wenn ich sie länger brennen lasse, ist sie bald abgebrannt. Und das passt ja irgendwie nicht zu dem Stand unserer Beziehung … « Er sah amüsiert zu, wie ich gierig trank. Wahrscheinlich schüttete ich mir die Hälfte davon auf meinen rosa Plüschanzug, den ich hier auf Kur trug. Ich sah bestimmt aus wie ein verkleckertes Kleinkind. Mich wunderte, dass Jürgen Bruns überhaupt Interesse an mir hatte. Meine streichholzkurzen pechschwarzen Haare und meine knabenhafte Figur – was reizte ihn an mir?
»Aber wir haben doch keine Beziehung … « Hastig stellte ich das Glas wieder ab und ärgerte mich, dass meine Finger dabei zitterten.
»Nein, natürlich nicht.« Jürgen faltete die Hände und ließ sie unter seinem Kinn ruhen. Er sah mich abwartend, ja fast bittend an. »Was machen Sie denn an Weihnachten?«
»Ich? Nix! Also ich meine, ich fahre nicht nach St. Moritz zum Skifahren oder so … «
Er wirkte überrascht. »Dürfen Sie nicht heim?«
»Nein. Unter fünfzig Kilo komm ich hier nicht wieder raus, sagt der Doc.« Mir wurde schwer ums Herz. »Das ist das erste Weihnachten, das ich nicht mit meinen Jungs verbringe.«
»Wie alt sind sie denn?« Jürgen Bruns sah mich mitfühlend an.
»Sie sind Mitte und Anfang zwanzig und feiern mit ihren Freundinnen.«
»Oh. Na ja, also ehrlich gesagt, freut mich das sehr. Das liegt dieses Jahr wohl im Trend … «
»Wie meinen Sie das?« Ich sah ihn durchdringend an.
»Mit der Freundin feiern?«
Jürgen Bruns wurde tatsächlich ein bisschen rot und zupfte verlegen an der Wolldecke. »Ich bleibe an Weihnachten nämlich auch hier.«
»Aber Sie wiegen doch mehr als fünfzig Kilo?«
Ich versuchte, meine plötzliche Freude durch Blödeleien zu vertuschen. »Wartet Ihre Frau nicht mit dem Gänsebraten auf Sie?«
»Erstens wartet weder Frau noch Gans«, konterte Jürgen Bruns. »Und zweitens habe ich mal im Schwesternzimmer einen Blick auf die Patientenliste geworfen, nur so, interessehalber.« Er starrte konzentriert auf seine Hände. »Es werden tatsächlich nur zwei Patienten über die Feiertage hier sein.«
Mein Herz machte einen nervösen Hopser, und er sah mir mit einer Intensität in die Augen, die mir die Luft zum Atmen nahm. »… Nämlich Sie und ich. Nur wir beide, und da haben wir unendlich viel Zeit, einander kennenzulernen.«
Mein Vater hatte eine Geliebte. Sonntags nach dem Mittagessen fuhr er fein gemacht in die Stadt. Er sah wirklich rührend aus in seinem zu weiten Jackett und der fleckigen Hose, die er unter der Brust mit einem Gürtel festhalten musste. In seinem viermal gewendeten Hemdkragen, seinen gestopften Strümpfen und den immer wieder neu zusammengenagelten Schuhen. Mit dem Bus fuhr er nach Freudenstadt, während meine Mutter im unförmigen Kittel weinend am vergitterten Fenster stand und ihm nachsah. Nachdem sie ihm zwei Mädchen und keinen ersehnten Sohn geboren hatte, der ihm bei der schweren Arbeit helfen, ja sein mühsam erkämpftes »Elternhaus« erben konnte, rührte mein Vater sie nie wieder an.
»Du glaubst doch nicht, dass du mich noch fesseln kannst?«, hatte ich ihn einmal sagen hören und nicht verstanden, was er damit meinte. »Da fesselt mich eine ganz andere! Die zieht wenigstens hübsche Kleider an und riecht gut!«
»Ich habe dich aus Liebe geheiratet«, hatte Mutter geschluchzt. »Aus Liebe bin ich mit dir in dieses finstere Loch am Steinbruch gezogen, weil ich mein Leben mit dir teilen wollte! Du Hungerleider! Dir macht das Hungern ja nichts aus, aber mir!« Dabei hatte sie sich mit beiden Händen an die Brust getrommelt. »Mir macht es was aus, und den Kindern!«
»Wo geht er hin, warum nimmt er mich nicht mit?« Ich stand neben der Mutter und teilte ihre Trauer, spürte, dass er ihr etwas antat, das sie ihm nicht antun konnte. Er tat etwas Verbotenes, etwas, das Spaß machte, während Mutter hier stand, das Geschirr waschen, die Stube kehren, die Tiere füttern und die Wäsche flicken musste. Sie wartete vergeblich darauf, dass jemand
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