Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
Mal war ich sicher, dass ich ihn auf meiner Seite hatte. Ich wollte Trost, vielleicht eine Umarmung, ein paar aufmunternde Worte. Ich wollte für den Rest der Nacht in seiner Nähe sein, vielleicht auf einem Pappkarton ein bisschen schlafen.
Doch die Reaktion meines Vaters verblüffte mich wieder einmal. Er ließ alles stehen und liegen, nahm mich an der Hand und rannte mit mir den ganzen Weg nach Hause. In seinen Augen stand unbändige Wut. Mit der Kraft eines Bullen zerrte er mich, die ich vor lauter Schmerzen kaum laufen konnte, über den nächtlichen Hohlweg. Zu Hause griff er zum Schürhaken und ließ ihn auf meine Mutter niedersausen. Mit Abscheu, aber auch mit seltsamem Entzücken sah ich zu. Er verdrosch sie nach Strich und Faden, dann ließ er den Schürhaken fallen, klopfte sich die Hände ab und stapfte wieder durch die Dunkelheit zurück in die Fabrik.
Das war das letzte Mal, dass ich von meiner Mutter geschlagen worden war.
Auf dem Höhepunkt dieses ganzen Elends tauchte eines Tages Tante Ella, eine ältere Schwester meines Vaters, bei uns auf. Tante Ella hatte mehr Glück gehabt als meine Mutter, sie hatte einen reichen Bäckermeister geheiratet und halb Wilhelmsweiler gehörte schon ihr. Aber was nützte ihr der Reichtum, wenn ihr einziger Sohn tot war! Mit sechzehn war er im Krieg gefallen, und Tante Ella saß mal wieder weinend bei uns am Küchentisch und rührte in ihrem Malzkaffee. Meine Mutter tätschelte ihr unbeholfen den Arm. »Ja, bei Gott, schwere Zeiten sind das, schwere Zeiten!«
»Dabei hätte der Bub die Bäckerei erben sollen!« Tante Ella legte ihr Gesicht auf die Arme und weinte hemmungslos. »Wer soll denn nun die Bäckerei erben!«
Tja, das konnten wir ihr auch nicht sagen. Wir wären schon froh gewesen, wenn sie uns nur eine Semmel oder ein halbes Brot mitgebracht hätte.
»Und dem Josef geht’s auch nicht gut, gar nicht gut«, heulte Tante Ella weiter. »Der hat ja auch in den Krieg gemusst und ein Bein verloren! Wie soll er das denn ganz alleine schaffen mit der Bäckerei! Ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste!«
Wir schauten sie betroffen an und schwiegen. Onkel Josef war reich und angesehen in Wilhelmsweiler, aber das war bestimmt nicht so viel wert wie zwei gesunde Beine.
Schließlich hob Tante Ella den Kopf und sah ihre Schwägerin Karoline entschlossen an:
»Gibst mir halt deine zwei Mädels mit, Karoline. Sie sollen es gut bei mir haben.«
Meine Mutter verstand nicht. »Wie ist das gemeint?«
»Na, hier wird sowieso nichts aus ihnen – ich würde sie adoptieren, mein Josef ist einverstanden, und am Ende erben sie die Bäckerei! Und unser großes Haus und die anderen Filialen!« Fordernd blickte sie meine Mutter an. »Also, Karoline! Was zögerst du noch! Sie können später eine gute Partie machen und einen Bäckermeister heiraten, genau wie ich!«
»Ich soll dir meine Kinder … verkaufen?«
»Nein, verkaufen nicht. Geld würde ich dir keines dafür geben. Das fehlte ja noch!«
»Aber wenn du sie adoptierst, muss ich sie ja ganz offiziell hergeben!« Alle Farbe war aus Mutters Gesicht gewichen.
»Ja, du müsstest schon mitkommen aufs Gericht, und der Gottlieb auch, und ihr müsstet beide unterschreiben, dass ihr kein Anrecht mehr auf die Kinder habt und für immer auf sie verzichtet!«
»Aber Ella, das kannst du doch nicht im Ernst von mir verlangen!« Meine Mutter konnte das Ausmaß ihres Vorschlages gar nicht begreifen. »Glaubst du wirklich, ich bleibe für den Rest meines Lebens allein hier mit dem Gottlieb, dieser tauben Nuss, und mache die ganze Arbeit mit dem Haushalt und den Viechern?«
»Na ja, Arbeit hättest du dann ja nicht mehr so viel, und zwei Mäuler weniger zu stopfen!« Tante Ella vertrat ihren Standpunkt mit der ihr eigenen Logik. Sie schnäuzte geräuschvoll in ihr Taschentuch. »Du solltest froh sein, dass ich dir deine Rotzblagen abnehme und sie durchfüttere, bis sie das Bäckerhandwerk gelernt haben!«
Sieglinde und ich hockten mucksmäuschenstill auf unserem Bänkchen unter der Stiege. Einerseits erschien mir das Angebot von Tante Ella doch gar zu verlockend: In einer Bäckerei lernen dürfen, in Wilhelmsweiler, weit weg von hier, wo wir warme Sachen bekommen würden und jede ein Bett für sich allein! Andererseits hatte ich panische Angst davor, dass meine Mutter auf diesen Kuhhandel eingehen und uns regelrecht verschenken würde. Waren wir ihr denn gar nichts wert? Ängstlich sah ich zwischen Mutter und Tante hin und
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