Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
Stützrädern und schließlich ganz allein. Als ich zum ersten Mal das Gleichgewicht halten konnte, sauste ich jubelnd die Einfahrt hinunter und ließ mich danach glücklich in die Wiese fallen. Die Kleinen stürzten sich auf mich, und wir wälzten uns im Gras. Ich hatte eine ganze Kindheit nachzuholen, und Tante Emmi gönnte sie mir. Sie stand hinter der Gardine und schüttelte nur lachend den Kopf über unsere Albernheiten.
Im Sommer gingen wir mit den Kindern ins nahe gelegene Freibad. Tante Emmi kaufte mir einen rotweiß gepunkteten Badeanzug mit einem dazu passenden Röckchen. Busen hatte ich zwar keinen, aber die Tante wollte mich ein bisschen weiblich ausstaffieren. Mit den Kindern planschte ich im Kinderbecken, warf mich jauchzend auf den bunten Wasserball und trug genau wie die beiden Kleinen einen gelben Schwimmring, ohne dass es mir peinlich gewesen wäre. Waren die Kinder trocken gerubbelt und saßen mit Butterbrot und Apfel auf der Decke, übte Tante Emmi ganz unspektakulär mit mir das Schwimmen.
»Setz dich einfach ins Wasser und halt die Luft an. Es wird dich tragen.«
Eines Tages konnte ich es. Es war, als könnte ich fliegen.
Die Sommerferien verbrachten wir im Kreis der fröhlichen Großfamilie im Schwimmbad und in Mariannes und Helmuts Garten. Wir grillten und spielten am Gartentisch Mensch ärgere dich nicht und Fang den Hut . Wir spielten Federball und Verstecken, bauten uns ein Zelt aus Wolldecken und übernachteten darin.
Bei Gewitter kuschelten wir uns unter der Markise aneinander und erzählten uns Gruselgeschichten. Biologisch war ich siebzehn, mental und körperlich zwölf.
Ich holte meine Kindheit nach, inhalierte sie mit tiefen, gierigen Zügen.
Nun war ich schon fast ein Jahr bei der Tante, und meine seelischen und körperlichen Wunden waren verheilt. Die Eltern schrieben kurze, aber liebe Postkarten, in denen sie mitteilten, wie glücklich sie über meine Fortschritte waren. Sie schafften ihre kleine Landwirtschaft nun zu zweit, in der Rasierklingenfabrik hatte der Vater aufgehört, er war jetzt in Rente, und ich hatte kein schlechtes Gewissen mehr. Zum ersten Mal war meine kleine Welt in Ordnung. Jeden Abend betete die Tante mit mir, und ich war mir ganz sicher: der liebe Gott passt wieder auf mich auf.
Nach und nach brachte mir die Tante das Kochen einfacher Gerichte bei: Bratkartoffeln mit Spiegeleiern, Pellkartoffeln mit Hering, Nudeln mit Tomatensauce und Hackepeter mit Zwiebeln. Spanisch Frico und Blinde Fische waren meine Lieblingsspeisen. Alles improvisierte Nachkriegsgerichte, mit denen ich zaubern lernte. Jedes Mal, wenn ich meiner Lehrerin stolz meine neue Kreation servierte, lobte sie mich wie eine Meisterköchin. Das alles war neu für mich: ich war noch nie in meinem Leben gelobt worden! Die Erfahrung, geschätzt zu werden, verlieh mir Flügel. Mit Feuereifer erledigte ich meine kleinen Aufgaben. Nach dem Essen legte sich Tante Emmi aufs Ohr, und ich räumte die Küche auf, spülte das Geschirr und hängte zum Schluss das Geschirrtuch zum Trocknen über die Fensterbank. Es war alles so einfach! So wenig! Es ging mir alles so leicht von der Hand, und ich wurde auch noch belohnt dafür! Ich wusste gar nicht, wie ich es anstellen sollte, ihr meine Dankbarkeit zu zeigen. Wenn die Tante schlief, wischte ich Staub in ihrem Wohnzimmer, wo auch ein Klavier stand. Andächtig wischte ich über den silbernen Bilderrahmen mit dem Lorbeerzweig und dem matten Schwarz-Weiß-Foto, aus dem mir Onkel Justus unter seinem Stahlhelm ernst entgegenblickte. Ein schwarzes Samtband war schräg über das Bild gespannt, zum Zeichen der Trauer. Onkel Justus war mit fast fünfzig in den letzten Kriegstagen bei Stalingrad gefallen. Davor war er hier in Reutlingen der Direktor des Gymnasiums gewesen. Es erfüllte mich mit Stolz, dass ich so angesehene und feine Verwandte hatte. Auch wenn es nur dritten Grades war.
Tante Emmi hatte ihn über alles geliebt und mir nur Gutes von ihm erzählt.
Ein feiner, ehrlicher, zuverlässiger Mann war er gewesen, der Vater ihrer beiden Kinder und ihr bester und einziger Freund. Vielleicht musste man so einen Mann haben, um so eine liebevolle Frau zu werden, dachte ich in meiner kindlichen Naivität. Meine Eltern und die Schratts waren nicht liebevoll, weil sie selbst nicht geliebt worden waren. Ich wurde hier zum ersten Mal geliebt und anerkannt. Was für ein kostbarer Erfahrungsschatz!
10
»Es wird Zeit, dass meine kleine Gerti was Vernünftiges zu tun
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