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Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Titel: Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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es war ein heller, heimeliger Raum. Auf den Fenstersimsen standen Blumentöpfe, und die bunten Vorhänge bauschten sich im Herbstwind. Draußen in den Vorgärten leuchteten die Bäume in prächtigen Farben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier jemals grau und trostlos war.
    »Muss ich jetzt wieder mit nach Glatten?« Ängstlich klammerte ich mich an den Küchentisch.
    Das hier war bestimmt nur ein kurzes Intermezzo gewesen. Gleich würden wir in unser abgelegenes Tal zurückkehren. Sie brauchten meine Arbeitskraft. Morgen würde ich wieder in der Abstellkammer schlafen, direkt neben dem Schweinestall, und dann würde mein ganzes Elend wieder von vorne losgehen. Im Sommer würde ich sechzehn werden, aber das ohne jede Zukunftsperspektive. Der Vater würde seine Reue bald vergessen haben, und die Mutter würde mich wieder schlagen.
    »Mein Kind, dein Vater und ich haben besprochen, dass du vorerst bei mir bleibst«, sagte Tante Emmi und strich mir bereits dick Honig aufs Butterbrötchen. »Du musst ja erst mal zu Kräften kommen.« Mitleidig lächelte sie mich an. »Nun beiß mal kräftig runter!«
    Ich atmete rasch. »Ich … muss nicht mit nach Hause?« Flehend sah ich sie an. Tante Emmi schüttelte langsam den Kopf. In ihren Augen lagen aufrichtige Besorgnis und tiefes Mitleid.
    »Du kannst und sollst nicht mehr arbeiten«, antwortete Tante Emmi bestimmt. »Ich kenne einen guten Kinderarzt, der hat auch meine Marianne wieder hingekriegt, als sie vor Jahren eine offene Lungenentzündung hatte. Da sah sie fast so aus wie du.«
    Mein Vater suchte verschämt nach einem Taschentuch. »Die Tante bekommt dich schon wieder auf die Beine«, krächzte er.
    Ich sah von einem zum anderen. »Ihr meint, ich darf hierbleiben?«
    Mit Mühe unterdrückte ich ein staunendes Jubeln.
    »Weißt du, ich bin immer so allein«, bemerkte die Tante beiläufig und schenkte mir Kakao nach. »Schon immer habe ich mir gewünscht, noch mal eine kleine Tochter zu haben. Und der liebe Gott hat mein Gebet erhört: Gestern Abend stand da plötzlich ein kleines Mädchen, von dem ich noch gar nichts wusste, und … « Sie klopfte schelmisch auf den Tisch. »… sie ist sogar meine Nichte!«
    »Dritten Grades«, murmelte der Vater.
    »Aber das gilt!« Tante Emmi schob dem Vater ein Fresspaket über den Tisch. »Und du, lieber Gottlieb, fährst jetzt schön nach Hause und grüßt deine Karoline von mir. Sie soll sich keine Sorgen machen, ich passe gut auf eure Tochter auf.«
    »Wie können wir das nur wiedergutmachen?« Der Vater kämpfte mit den Tränen.
    Tante Emmi schaute fröhlich in die Runde. »Wer redet denn von Gutmachen! Es macht mir Freude, euer Spätzchen wieder aufzupäppeln, und wenn sie mir Gesellschaft leistet beim Spazierengehen und vielleicht beim Kartenspielen?« Sie zwinkerte mir unmerklich zu.
    Ich nickte eifrig.
    »Dann hätten wir das jetzt besprochen.« Die Tante stand auf und schob den Vater zur Tür. »Wir schreiben euch, macht euch keine Sorgen!«
    Unter Tränen umarmte mich der Vater und drückte Tante Emmi lange und intensiv die Hand. Dann ging er, zurück in seine hundert Kilometer entfernte Steinbruchsiedlung.
    Wir winkten ihm noch durch das Küchenfenster nach, bis er hinter der nächsten Hausecke verschwunden war.
    Es begann eine wunderschöne Zeit. Ich kam mir vor wie in einem Sanatorium für verlorene Kinderseelen. Draußen hielt der Winter Einzug, und drinnen war es gemütlich und warm. Tante Emmi kümmerte sich rührend um mich und ließ mich nicht aus den Augen. Noch mehrmals hatte ich Schwächeanfälle und Kreislaufstörungen und klappte einfach zusammen. Dann hob sie mich auf, trug mich in ihr Bett und blieb bei mir sitzen, bis es mir wieder besser ging. Sie las mir Geschichten vor, legte mir Schallplatten auf und brachte mich regelmäßig zu Doktor Winkler, dem feinfühligen Kinderarzt, der mich anfangs nur fassungslos betrachtete und dann mit jedem Mal zufriedener lächelte.
    »Das kleine Vögelchen wird wieder fliegen.«
    Meine eitrigen, schwieligen Hände wurden dick mit Heilsalbe bestrichen und in Verbände gepackt, meine Striemen an Armen und Beinen verblassten allmählich, und nach einiger Zeit hatte ich sogar ein, zwei Pfund mehr auf den Rippen. Doktor Winkler hatte mit hochgezogenen Brauen von »extremem Untergewicht« und »dauerhafter Mangelernährung« gesprochen, und Tante Emmi päppelte mich mit warmem Grießbrei und heißer Hühnersuppe wieder auf.
    Es war Vorweihnachtszeit, und ich durfte

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