Gefangen in Deutschland
nie erlebt hatte.
Wir saßen schon eine ganze Weile beisammen, als sich plötzlich eine weitere junge Frau zu uns gesellte. Ich war mir sicher, sie in dieser Familie noch nie gesehen zu haben. Wie sich schnell herausstellte, hieß sie Fatima und wohnte mit ihren zwei Kindern in der Wohnung über Aysegüls Eltern. Zu meiner Freude sprach sie einigermaßen gut Deutsch. Sie konnte höchstens fünfundzwanzig Jahre alt sein. Das Erste, was mir an ihr auffiel, war die große Leere in ihrem Blick. Sie schien mir unsagbar traurig zu sein. Da ich von meinem Naturell her ein sehr offener Mensch bin, hätte ich sie am liebsten auf meine Beobachtung hin angesprochen. Aber weil sich die ganzen Kinder um uns versammelt hatten, ließ ich es sein.
Nachdem Fatima einen Tee getrunken hatte, verabschiedete sie sich rasch wieder von uns, nicht ohne Aysegül zu bitten, dass wir doch noch kurz bei ihr vorbeikommen sollten, bevor wir gehen würden: Sie habe für ihre kleine Tochter ein Anmeldeformular vom Städtischen Kindergarten erhalten und benötige Hilfe beim Ausfüllen. Also machten wir uns vor dem Heimweg noch auf den Weg nach oben.
Da sich Fatima allein in ihrer Wohnung befand, hatte sie ihr Kopftuch abgenommen. Nun erst erkannte ich, wie wunderschön sie war. Ihr glänzendes schwarzes Haar ging ihr fast bis zu den Hüften und sie bewegte sich mit einer Anmut und Leichtfüßigkeit, wie man es nicht oft zu sehen bekommt. Die ganze Wohnung war mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Aus allen Räumen strömte der Duft von türkischem Rosenwasser. Wir nahmen in der Küche Platz, und Fatima holte die Papiere. Während sich Aysegül mit dem Ausfüllen der Formulare beschäftigte, sah ich mich weiter um. Auch die Küche war aufwendig dekoriert; an den Wänden hingen mehrere Fotos, unter anderem das eines alten Mannes und links und rechts davon jeweils ein Bild mit einem Kind darauf.
»Sind das deine Kinder?« Ich deutete auf die Fotos.
»Ja, das sind meine kleinen Engel«, antwortete Fatima voller Stolz und ihre Augen begannen zu leuchten.
»Dann ist das in der Mitte sicherlich dein Vater?«, fragte ich weiter.
Sofort erlosch das Leuchten in Fatimas Augen. Aysegül blickte mich erschrocken an.
»Ist schon okay, Aysegül, sie kann es ja nicht wissen.« Fatima hatte meiner Freundin beschwichtigend die Hand auf die Schulter gelegt. Dann wandte sie sich zu mir um. »Nein, Katja, das ist nicht mein Vater, das ist mein Ehemann!«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, so schockiert war ich.
»Jetzt fragst du dich bestimmt, warum ich mir so einen alten Mann genommen habe«, erriet Fatima meine Gedanken. »Aber ich habe ihn mir nicht ausgesucht und auch meine Eltern haben diese Verbindung nicht gewollt. Bekir hat um meine Hand angehalten, doch meine Eltern haben abgelehnt. Dafür sprach nicht nur die Tatsache, dass er viel zu alt für mich ist, sondern auch, dass er bereits verheiratet war. Meine Eltern hätten mir nie zugemutet, lediglich eine Zweitfrau zu werden.«
»Aber warum bist du nun doch mit ihm verheiratet?«, platzte ich heraus.
»Oh, das ist schnell erzählt! Nachdem meine Eltern seinen Heiratsantrag abgelehnt hatten, ließ er mich entführen und vergewaltigte mich. Da ich somit keine Jungfrau mehr war, hätte mich kein anderer mehr geheiratet. Letztendlich blieb meinen Eltern gar nichts anderes übrig, als einer Hochzeit zuzustimmen. Das war die einzige Möglichkeit, die Familienehre zu erhalten.«
Als Fatima meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, musste sie lachen.
»Katja, das ist bei uns nichts Ungewöhnliches! Viele Ehen entstehen auf diese Art und Weise. Man spricht nur nicht offen darüber, deshalb weiß das fast niemand.«
Ich schluckte. Was für eine Welt war das, in die ich mich hineingebracht hatte? Plötzlich kam mir noch ein anderer Gedanke.
»Lebt Bekirs erste Frau auch hier?«
»Nein.« Fatima schüttelte den Kopf. »Sie hat ein paar Straßen weiter eine eigene Wohnung. Bekir übernachtet abwechselnd mal hier und mal dort.« Auf meinen ungläubigen Blick hin klärte sie mich weiter auf. »Bei den Muslimen ist die Vielehe erlaubt. Der muslimische Mann darf bis zu vier Frauen heiraten. Die einzige Bedingung ist, dass er keine davon benachteiligen darf.«
»Aber wir sind hier in Deutschland, wie kann das sein? Hier bei uns ist Polygamie doch verboten!«, begehrte ich auf.
»Ach, Katja, du ahnst ja gar nicht, wie viele Mittel und Wege wir Türken kennen, die Deutschen und ihre Gesetze auszutricksen,
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