Gefangen in Deutschland
Frauensache! Steh jetzt auf!«
Er begann an mir herumzuzerren. Schnell sprang ich aus dem Bett und schlüpfte in meine Kleider. Mir war mehr als mulmig zumute. Ich fühlte mich mit dieser Situation eindeutig überfordert. Da ich aber sowieso nicht die Wahl hatte, machte ich mich rasch auf den Weg zu Aysegüls Wohnung.
Sie war in keiner guten Verfassung und schien starke Schmerzen zu haben. Beruhigend sprach ich auf sie ein und packte das Nötigste zusammen. Ogün hatte es noch nicht einmal für nötig befunden, sein Bett zu verlassen. Er tat so, als ob ihn das alles gar nichts anginge.
Zehn Minuten später steuerte ich Mahmuds Auto Richtung Krankenhaus. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis ich endlich einen Parkplatz gefunden hatte. Die ganze Fahrt über hatte Aysegül leise vor sich hin geweint. Mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass kein Mensch sie auf das vorbereitet hatte, was nun auf sie zukommen würde. Dass Frauen aus ihrer Familie einen Geburtsvorbereitungskurs besuchten, war absolut nicht üblich. Ogün hätte Aysegül niemals erlaubt, für einen solchen Kurs das Haus zu verlassen.
Ich half Aysegül aus dem Auto und versuchte sie zu stützen, so gut ich konnte. In der anderen Hand trug ich ihre Tasche. Nachdem ich sie in der Aufnahme angemeldet hatte, wurden wir sofort auf die Entbindungsstation gebracht. Irgendwie schien es selbstverständlich zu sein, dass ich bei der Geburt dabei sein würde. Ich hatte mich längst in mein Schicksal gefügt. Ich hätte es sowieso nicht übers Herz gebracht, sie nun allein zu lassen. Wieder einmal wurden mir die unterschiedlichen kulturellen Verhältnisse bewusst, in denen wir aufgewachsen waren. In deutschen Familien war es Anfang der Neunzigerjahre längst üblich, dass der werdende Vater bei der Geburt seines Kindes dabei war und seine Frau unterstützte, so gut es eben in dieser Situation ging. In der türkischen Kultur ist das Kinderkriegen bis heute meist reine Frauensache. Viele der frischgebackenen Väter besuchen ihre Frau nicht einmal nach der Geburt im Krankenhaus, sondern sehen ihr Kind zum ersten Mal, wenn die Frau entlassen wird und wieder zu Hause ist. Selbstverständlich gibt es auch hier Ausnahmen, aber in der Regel wird es noch immer so gehandhabt wie in Aysegüls Fall.
Auf der Entbindungsstation wurden wir gleich von einer Hebamme in Empfang genommen. Sie wies uns zuerst ein separates Zimmer zu, in dem sie Aysegül untersuchen wollte, um zu sehen, wie weit sich der Muttermund schon geöffnet hatte. Während der Untersuchung wollte ich vor die Tür gehen, aber Aysegül umklammerte meine Hand wie eine Ertrinkende. Aus ihrem Blick konnte ich die großen Schmerzen ablesen, die sie erleiden musste. Sie zitterte am ganzen Körper. Während der Untersuchung streichelte ich ununterbrochen ihr Gesicht. Ich wollte ihr Trost und Zuversicht geben, um ihre Angst ein wenig zu schmälern.
Auch die Hebamme richtete ein paar aufmunternde Worte an sie.
»Sieht doch gar nicht so schlecht aus! Der Muttermund ist immerhin schon sechs Zentimeter geöffnet«, unterrichtete sie uns über das Ergebnis ihrer Untersuchung. »Wenn Sie möchten, können Sie noch ein bisschen auf dem Flur umherlaufen, bevor wir Sie in den Kreißsaal bringen.«
Aysegül schüttelte den Kopf.
»Es wäre mir lieber, Sie würden mich gleich dorthin bringen. Ich fühle mich zu schwach zum Laufen«, erwiderte sie mit kraftloser Stimme.
In dem Moment rollte eine neue Wehe heran und sie krümmte sich vor Schmerzen. Als sie die anschließende Frage der Hebamme nach einem Geburtsvorbereitungskurs verneinte, stieß diese einen tiefen Seufzer aus.
»Es ist doch immer das Gleiche mit euch Türken! Da kommen blutjunge Mädchen zu uns, die nicht die geringste Ahnung vom Kinderkriegen haben, und die Familien halten es nicht mal für nötig, sie darauf vorzubereiten!« Vorwurfsvoll schaute sie mich an. »Na ja, da habe ich ja heute mal richtig Glück, dass wenigstens Sie als Begleitung dabei sind!«
Mir war nicht ganz klar, ob ihre letzte Bemerkung nun ironisch gemeint war oder nicht. Jedenfalls versuchte sie mir in ein paar Sätzen die richtige Atemtechnik bei Wehen zu erläutern und mich zu instruieren, wie ich diese zusammen mit Aysegül anzuwenden hätte. Nachdem sie uns in den Kreißsaal gebracht hatte, schloss sie Aysegül noch an einen Wehenschreiber an und ließ uns beide dann allein.
Die Schmerzen schienen unterdessen immer schlimmer zu werden, doch es sollten noch viele Stunden vergehen,
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