Gefangen in Deutschland
über den Rücken. Am liebsten hätte ich dieses kleine Mädchen bei der Hand genommen und wäre mit ihr davongelaufen. Aber ganz abgesehen davon, dass ich nicht gewusst hätte, wo ich mit ihr hätte untertauchen sollen, wir hätten auch nicht den Hauch einer Chance gehabt, aus der vollkommen überfüllten Wohnung zu gelangen. So blieb mir nichts anderes übrig, als weiterhin Zuschauerin jenes makaberen Schauspiels zu bleiben.
Es dauerte nicht lange, und der Bräutigam betrat die Wohnung. Er und seine Begleiter wurden mit Tee bewirtet. Irgendjemand stellte einen Stuhl neben den von Ayla. Dieser war für ihren Mann gedacht – für die Hochzeitsfotos. Als er neben Ayla Platz nahm, konnte man sehen, wie sie vor ihm zurückschreckte und sekundenlang die Luft anhielt.
Die vormals ausgelassene Atmosphäre wich einer merkwürdigen Stimmung gemischt aus Anspannung und Erwartung auf das, was nun folgen würde. Ich hatte in einer Ecke des Zimmers Platz genommen und starrte wie versteinert auf das ungleiche Paar, als sich beide plötzlich von ihren Stühlen erhoben, um sich in das angrenzende Schlafzimmer zu begeben. Sofort versammelte sich ein Großteil der anwesenden Frauen vor der Tür. Da ich keine Ahnung hatte, was nun folgen würde, wandte ich mich an Aysegül, die mich nur befremdet anschaute.
»Ja, was denkst du denn, was jetzt passiert? Ich hab’s dir doch erklärt: Ayla muss nun den Nachweis erbringen, dass sie noch Jungfrau ist. Sobald die beiden Brautleute den Geschlechtsakt vollzogen haben, muss das mit dem Blut des Jungfernhäutchens befleckte Betttuch herausgereicht werden. Erst dann gilt die Hochzeit als vollzogen.«
Die Worte kamen ihr mit einer Leichtigkeit über die Lippen, dass es mir fast den Verstand raubte. Natürlich, sie hatte mir von der Sache mit dem Bettlaken erzählt. Aber sie hatte mir nichts zu den näheren Umständen gesagt, kein Wort davon, wie dieses Ritual vollzogen würde, um welch ein menschenverachtendes Spektakel es sich dabei handelte! Am liebsten hätte ich Aysegül an den Schultern gepackt und geschüttelt. Mein Gehirn wollte und konnte nicht begreifen, dass hier gerade ein Kind vergewaltigt wurde, während die ganze Familie wartend vor der Tür stand und so tat, als sei dies die schönste Sache der Welt.
Fieberhaft überlegte ich, ob ich nicht doch noch etwas gegen diesen unglaublichen Vorgang tun könnte. In dem Moment wurde die Schlafzimmertür einen Spalt geöffnet und das Betttuch herausgereicht. Wie auf Kommando brachen alle in tosenden Jubel aus: Ayla, das zwölfjährige Vergewaltigungsopfer, hatte den Beweis ihrer Jungfräulichkeit erbracht.
14. K APITEL
Vom Zusammenleben zwischen Mann und Frau
»Wenn du mich noch einmal so blamierst, wird das äußerst unangenehme Folgen für dich haben!«
Mahmuds Augen funkelten mich böse an.
Ich hatte fluchtartig die Hochzeitsfeier verlassen und war auf direktem Wege zu Petra gerannt. Das Gefühl, unbedingt mit einem Außenstehenden über das reden zu müssen, wessen ich gerade Zeugin geworden war, hatte mich jede Etikette und zugleich jede Vorsicht vor Mahmuds garantiertem Wutausbruch vergessen lassen.
Dass Zwangsverheiratungen in einem Land wie Deutschland möglich waren, noch dazu mit Minderjährigen, erschütterte mich an Aylas Geschichte fast am meisten. Wie konnte es sein, dass unser Staat diese barbarische Sitte nicht stärker ahndete? Wo waren all die Frauenrechtlerinnen, die doch sonst immer so schnell laut Protest schrien, wenn ihre Geschlechtgenossinnen in irgendeiner Form misshandelt wurden? Und was war mit dem Jugendamt – auch dort musste man doch Kenntnis davon haben, dass es in manchen türkischen Familien offenbar üblich war, kleine Mädchen unter dem Deckmantel der Eheschließung lüsternen alten Männern unterzuschieben?
Petra hatte mich liebevoll in den Arm genommen und getröstet. Auch sie war tief betroffen von Aylas Schicksal. Im Gegensatz zu mir hatte sie jedoch schon öfter von ähnlichen Fällen gehört. Sie erzählte mir, dass sich die jeweiligen Familien gern direkt auf den Propheten Mohammed beriefen, dessen Lieblingsfrau Aischa auch erst neun Jahre alt gewesen sein soll, als sie mit ihm die Ehe vollzog.
»Weißt du, Katja, solche Zwangsehen – die übrigens sehr häufig mit minderjährigen Mädchen geschlossen werden, also de facto Kinderehen sind – gibt es in vielen islamischen Ländern. In Deutschland machen sich Migranten, die ihre Kinder hier zwangsverheiraten, zwar strafbar. Aber zum
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