Gefangen in Deutschland
ausreichten, brauchte Aysegül dieses Mal nicht den Dolmetscher für uns zu spielen.
Nachdem Hatice und ich ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, nahm sie mich und Aysegül bei der Hand, um uns die Braut zu zeigen. Wir gingen in den größten Raum der Wohnung. Zwar war auch dieses Zimmer total überfüllt, aber wenigstens war die Luft dort besser. Aus einem Radiorekorder ertönte orientalische Musik. Alle Anwesenden hatten sich im Kreis aufgestellt und klatschten zum Rhythmus der Melodie in die Hände. In der Mitte des Zimmers hatte man die Braut auf einen Stuhl gesetzt. Sie war komplett von einem nahezu blickdichten weißen Spitzenschleier bedeckt, sodass man kaum ihr Gesicht erkennen konnte. Das Erste, was mir an ihr auffiel, war ihre geringe Körpergröße. Und das Zweite die Tatsache, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie bebte so sehr, dass ihr weißes Tüllkleid raschelte, was ich trotz der lauten Musik hören konnte.
Eine vage Ahnung beschlich mich, dass mit dieser jungen Frau irgendetwas nicht stimmen konnte. Bei der ersten Gelegenheit nahm ich Aysegül zur Seite und sprach sie auf meine Beobachtung an. Sie zuckte nur mit den Schultern.
»Soweit ich weiß, ist Ayla erst zwölf Jahre alt. Da würdest du auch zittern, wenn du die Hochzeitsnacht noch vor dir hättest!«
Aysegüls Stimme hatte völlig gleichgültig geklungen, als verspürte sie nicht einmal ansatzweise Mitgefühl mit der kindlichen Braut. Gern hätte ich meine Vermutung genauer hinterfragt, aber wegen des hohen Lärmpegels und der vielen Menschen um uns herum verschob ich das lieber auf später. Ich nahm mir ein Glas Tee und begann mir die Hochzeitsgesellschaft genauer anzuschauen.
Manche der Frauen schienen sich in einer Art Rausch zu befinden. Sie tanzten und klatschten mit verzückten Gesichtern und stießen dabei unverständliche Laute aus. Andere Anwesende befestigten Geldscheine mit Sicherheitsnadeln am Kleid der jungen Braut. Es verging sowieso fast keine Minute, in der nicht irgendjemand an Ayla herumzupfte. Immer wieder wurden auch ihre aufwendig mit Henna bemalten Handflächen einer intensiven Betrachtung unterzogen. Regungslos ließ sie alles über sich ergehen.
»Warum sitzt sie denn so stocksteif auf ihrem Stuhl herum?«, fragte ich Aysegül verständnislos.
»Das ist einfach so, unsere Tradition verlangt es eben, dass die Braut nicht mit den Gästen mitfeiert, sondern die ganze Zeit unbeweglich auf ihrem Stuhl zu sitzen hat. Sie darf auch nicht sprechen oder essen und trinken. Sogar aufs Klo darf sie nicht – solange sie nicht wirklich Gefahr läuft, sich in die Hose zu machen.«
Aysegül lachte freudlos auf, als könnte nicht einmal sie selbst über diesen schlechten Witz lachen. Wieder einmal blieb mir nur, den Kopf zu schütteln. Sollte die Hochzeit nicht der schönste Tag im Leben einer Frau sein? Hier war die Braut noch dazu ein Kind, das vor lauter Angst nicht mehr ein noch aus wusste. Allein der Gedanke, dass dieses Mädchen in ein paar Stunden dem Geschlechtsakt unterzogen werden würde, ließ in mir einen nie da gewesenen Ekel aufkommen. Aber das Schlimmste war, dass ich mich offenbar als Einzige unter den Gästen daran störte! Erneut überkam mich jenes nun schon bekannte Gefühl von hilfloser Ohnmacht. Ich musste mir eingestehen, dass es nichts gab, was ich für Ayla hätte tun können.
Aysegül riss mich aus meinen Gedanken.
»Warum schaust du denn so ernst? Wir sind hier, um zu feiern – und nicht, um Trübsal zu blasen!«
Energisch packte sie mich am Arm und zog mich in den Kreis der Tanzenden. Ehe ich mich dagegen wehren konnte, hatten die Frauen mich untergehakt und rissen mich im Rhythmus der Musik mit. Notgedrungen machte ich gute Miene zum bösen Spiel und versuchte, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
Nachdem wir auf diese Weise mehrere Stunden verbracht hatten, hörten wir plötzlich das laute Hupen eines Autos auf der Straße. Neugierig stürzten alle zum Fenster. Der Bräutigam war vorgefahren! Ich rang nach Luft, als ich ihn genauer in Augenschein nehmen konnte: Er musste mindestens fünfzig Jahre alt sein, wenn nicht älter! Unter lautem Gejohle verließ er zusammen mit einigen männlichen Mitgliedern der Familie den Wagen. Auch Mahmud befand sich unter seinen Begleitern.
Als Ayla registrierte, was da vor sich ging, fing ihr zarter Körper noch viel stärker an zu zittern. Ein herzzerreißendes Schluchzen entrang sich ihrer Brust.
Mir lief ein Schauer nach dem anderen
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