Gefangen
Stenborg blutbesudelt und brüllend in seiner Kellerfestung herumtorkelt, gehe ich zuerst zu Lauren, dann zu Jennifer und reiße mit bloßen Händen ihre Fesseln aus der Wand.
Zum Schluss befreie ich auch Carmen und trage ihren leblosen Körper die Treppe hinauf, durch ein stinkendes Labyrinth von unterirdischen Räumen und gepanzerten Türen, die das Monster unter seinem Haus geschaffen hat. Und weiter geht’s, hinauf in die klare, kühle Dunkelheit draußen vor Paul Stenborgs Hintertür. Lauren und Jennifer folgen dicht hinter mir, so schnell ihre Ketten und Verletzungen es erlauben.
Und dann das Sternenlicht in meinen Augen, der unendliche Himmel, der kalte Wind, der mir die Haare vom Kopf hochweht, jede einzelne, glatte Strähne gerad e … Das ist alles, an was ich mich fürs Erste erinnere.
Kapitel 24
Ich liege mit dem Gesicht nach unten im kalten, süß duftenden Gras. Es ist Nacht. Unter Carmens verkrümmten Fingern und unter ihren schwarzen Locken ist Erde. Und Laurens flehende Stimme dringt an unser Ohr, noch ehe ich aufstehen kann.
Es ist kein Traum, sage ich mir, für einen kleinen Moment enttäuscht. Ich schlafe nicht. Luc wird diesmal nicht auftauchen, weder um mich zu preisen noch zu verdammen wie sonst immer, je nach Lust und Laune.
Ich bin so müde. So seltsam müde, dass ich kaum meine Augen aufmachen kann, aber ihre Worte lassen mich gleich erstarren.
„Jennifer ist losgegangen, um Hilfe zu holen“, sagt sie beschwörend. „Wir erzählen ihnen, dass Carmen Paul so lange abgelenkt hat, bis wir alle entkommen konnten. Carmen wird die Heldin sein, Mercy. Weil du’s nicht sein kannst. Hörst du mich?“
„Und seine Augen?“, murmle ich, während ich langsam auf die Knie komme und die Welt sich wieder richtig um ihre Achse dreht.
Die Nacht ist gnädiger zu Lauren. Im Mondlicht ist sie fast wieder die Alte, das Mädchen auf den Fotos, das seine zahlreichen Freunde umarmt. Und ich frage mich, ob sie vielleicht wieder so werden kann. In diesem Moment halte ich es beinahe für möglich.
„Es ging alles so schnell, dass wir fast gar nichts mitbekommen haben“, sagt sie mit Überzeugung, als ob es die reine Wahrheit wäre.
Wir hören Sirenen in der Ferne, Stimmen nähern sich, eine Menschenmenge, Licht, das auf Lauren fällt, die dasitzt, einen Arm fest um Carmens schmale Schultern geschlungen.
„Carmen war von irgendwas betäubt“, sagt sie, „und als sie wieder zu sich kam, ist sie durchgedreht, hat wie wild um sich geschlagen, Bleiche herumgeschmisse n …“
Meine Sinne schärfen sich unaufhaltsam. Ja, das könnte funktionieren. Wenn man dumm genug und bereit ist, alles zu glauben, was einem erzählt wird.
„Und das Monster?“, frage ich.
„Immer noch in seinem eigenen Keller eingesperrt“, sagt Lauren mit grimmigem Triumph in der Stimme, als der Erste aus dem Rettungstrupp seine Taschenlampe auf uns richtet und einen Schrei ausstößt.
„Sei tapfer und bleib bei der Geschichte“, fügt sie hinzu, bevor sie schwankend aufsteht und ihren dünnen Arm in der Luft schwenkt. „Hier drüben!“, ruft sie.
Grinsend blickt sie auf mich herunter und eine Sekunde lang muss ich von ihrem zerstörten Mund wegsehen. „Aber das muss ich dir ja nicht sagen. Du hast bisher ganz gut für dich selbst gesorgt.“
„Oh, mein Gott!“, ruft jemand in der Ferne. „Ich glaube, es ist Lauren! Lauren Daley! Sie lebt!“
„Wir sind frei“, flüstert Lauren wie berauscht, als sie von mir weggetragen wird. „Endlich frei!“
Nur du nicht, sagt die böse kleine Stimme im Takt meines geborgten Herzens, meines Verräterherzens. Du nicht. Auf dich wartet ein anderes Schicksal.
Dann sind Arme da, die mich hochheben. Lichter, rot und blau, eine Trage wartet, straffe, gestärkte weiße Laken. „Du bist in Sicherheit“, murmelt jemand freundlich, als ich von Hand zu Hand gereicht werde. „Jetzt kann dir nichts mehr passieren.“
Ich liege unter einer Decke, vor den andrängenden Reportern abgeschirmt, von den anderen Mädchen getrennt, damit unsere Geschichte verglichen und bestätigt werden kann. Aber wir lassen uns nicht irremachen, wir werden standhaft bleiben. Und ich denke müde: Lass sie kommen. Lass sie gegen uns anrollen wie eine Welle.
So müde. Ich schließe die Augen, um eine Weile den Schlaf des Gerechten zu schlafen. Diesmal habe ich es wirklich mehr als verdient.
„Mercy?“ Seine Stimme ist vertraut, flehend, und ich runzle die Stirn. Was ist da Schweres auf meinen
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