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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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Gesicht und es brennt wie von einem glühenden Eisen. Ich schrecke vor seiner Berührung zurück, und diese instinktive Zurückweisung lässt die Schönheit in seinen Zügen sofort erlöschen. Er hebt mich an der Kette um meinen Hals hoch, die Füße werden unter mir weggerissen, ich hänge vor ihm wie eine Stoffpuppe. Unsere Blicke bohren sich ineinander.
    Er schüttelt mich heftig. „Sing!“, zischt er, den Teufel in der Stimme. „Sing oder leide!“
    „Bitte!“, stößt Lauren hervor.
    „Bitte tu’s!“, fleht Jennifer.
    Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, mir ist so schwindlig, dass die Welt sich zusammenschiebt. Ich bin die Welt, oder die Welt wird zu mir, und in mir ist so viel Zorn und Angst und Abscheu, dass ich spüre, wie schwere Platten in Bewegung geraten, Schollen zerbrechen: Trennung, Umgestaltung, Losketten.
    Und der Schmerz in meiner Hand, meinem Unterarm, brennt so wild, dass ich einen markerschütternden Schrei ausstoße, der Paul in die Knie zwingt, die Hände auf die Ohren gepresst. Die beiden Mädchen neben mir schaukeln auf ihren Betten hin und her, halten sich die Köpfe, um dem Nachhall der akustischen Schockwelle zu entgehen.
    Ich stürze am Ende meiner straff gespannten Kette zu Boden. Meine brennende Hand gegen die Brust gedrückt auf den Knien kauernd, keuche ich wie ein sterbendes Tier.
    Ein dünner Blutfaden sickert zwischen Pauls Fingern hervor, und ich spüre, wie etwas in mir in zwei Hälften zerreißt, höre die anderen beiden Mädchen keuchen, nehme dunkel Gestalten zu meiner Linken und Rechten wahr. In diesem Augenblick fällt Carmens schmale Gestalt von mir ab und stürzt nach vorne auf den Boden. Ihr Körper liegt dort leblos zu meinen Füßen, während ich mich aufrichte und mit donnernder Stimme rufe:
    „Si dextra manus tua scandalisat te, abscide eam!
    Quod sie oculus tuus dexter scandalisat te, erue eum!“
    Ich habe keine Vorstellung von meinem körperlichen Selbst, aber ich weiß, dass ich sehr groß bin. Weit über eins achtzig oder sogar eins neunzig.
    Meine Perspektive hat sich verändert. Der Raum, der mir in Carmens Körper wie eine tiefe, dunkle Höhle erschien, vermag mich jetzt kaum noch zu fassen. Seine Dimensionen erscheinen mir puppenhaft.
    Aber ich weiß, auch das ist die Wirklichkeit, denn die Augen der anderen folgen mir nach oben, riesig in den weißen Gesichtern.
    Wie ein Berg rage ich über Paul Stenborg auf, fülle seinen ganzen Horizont. Ich bin seine Welt, und die Angst haftet an ihm wie ein Geruch, sie sitzt wie ein Hexentier auf seiner Schulter und nagt an seinem Fleisch, und es ist gut.
    „Wer bist du?“, schreit er, und noch immer sickert Blut aus seinen geplatzten Trommelfellen.
    „Ich bin der Schmerz“, wispere ich mit einer Stimme, die Stahl und Stein erweicht und Tote erweckt. „Ich bin das lebendige Schwert. Und ich werde alle Dinge zusammenholen, die ein Ärgernis sind, alles, was gefrevelt hat, und ich werde alle in den Ofen werfen, der brennt.“
    Die Worte strömen frei aus mir heraus, als hätten sie in all meinen früheren Leben nur darauf gewartet, endlich ans Licht zu kommen.
    Dunkel nehme ich Jennifers Schreie wahr, Laurens angsterfülltes Wimmern.
    Und ich packe Paul Stenborg an seinem Hemdkragen und hebe ihn hoch, hoch über den Boden, mit einer Faust wie ein blutiger Kettenpanzer, und ich schüttle ihn, wie er Carmens zerbrechlichen, kleinen Körper geschüttelt hat, und ich sage noch einmal:
    „ Si dextra manus tua scandalisat te, abscide eam. Wenn deine Hand dich zur Sünde verleitet, so schneide sie ab. Quod sie oculus tuus dexter scanalisat te, erue eam. Und wenn dein rechtes Auge dich zur Sünde verleitet, dann reiße es aus.“
    Und mit meiner brennenden linken Hand reiße ich ihm die Augen aus, erst das eine, dann das andere, damit er nie wieder sehen kann, nie wieder ein anderes Lebewesen begehrt. Damit er weder Form noch Farbe wahrnimmt, weder Freude noch Zorn noch Angst fühlt. Seine Augen gehören ihm nicht länger. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Ich bin der Vollstrecker. Und habe es vollbracht. Denn ich bin das lebendige Schwert und tue, was ich sage. Die Worte werden mir eingegeben, und ich weiß, dass sie wahrhaftig sind. Was immer ich getan habe, um mein Leben vor all den Jahren in so traurige Bahnen zu lenke n – diese Macht bleibt mir in Ewigkeit.
    „Und es wird sein Heulen und Zähneklappern“, sage ich leise, während ich dem Mann sanft aufhelfe.
    Während Paul

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