Gefangene deiner Dunkelheit
Fugen geraten ist«, sagte sie mit einem bösen Blick über die Schulter, bevor sie sich wieder abwandte. »Und dann kommst du daher und machst alles nur noch schlimmer, indem du mich beanspruchst und uns mit einem Ritual aneinanderbindest, ohne mich vorher auch nur gefragt zu haben. Und nun verwandele ich mich in etwas anderes. Wie würdest du dich fühlen, wenn dir so etwas geschähe?«
»Das weiß ich nicht. Aber ist es so schlimm, Karpatianerin zu werden?« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wünschte, er hätte seine gesamte Erinnerung zurück. »Du wirst so viele Dinge tun können, zu denen du jetzt nicht in der Lage bist. Mit der Zeit wirst du schon sehen, dass du keinen Grund zur Sorge hast.« Ihr Leben als seine Gefährtin würde perfekt sein, dafür würde er schon sorgen. »Es erscheint mir doch sehr unvernünftig, sich über etwas Sorgen zu machen, was sich ohnehin nicht ändern lässt.«
Seine Stimme klang so ruhig, dass sie sie ganz nervös machte. Er redete, als führten sie eine philosophische Debatte, statt die unwiderruflichen und dramatischen Veränderungen in ihrem Leben zu erörtern. Wut erfasste sie. »Unvernünftig? Du meinst, es sollte mich nicht beunruhigen, dass ich gewissermaßen aus meinem eigenen Körper herausgedrängt werde? Du ergreifst Besitz von mir, schreibst mir vor, was ich zu tun habe, und ich soll mir das gefallen lassen, nur weil du es sagst. Wie schön für dich, in deiner bequemen Haut zu leben und zu wissen, wer und was du bist. Mich für dich zu beanspruchen, verändert dein Leben wohl überhaupt nicht?«
»Es verändert alles.« Seine Stimme war ganz weich vor Emotion – Empfindungen, die er jetzt wieder verspüren konnte, weil sie ihm diese Gabe zurückgegeben hatte.
Er verstand nicht die Ungeheuerlichkeit dessen, was er getan hatte, als er sie unwiderruflich an sich gebunden hatte. Er schien nicht einmal zu verstehen, welche Auswirkung das auf ihr Leben hatte. Sie würde ihre Familie sterben sehen. Sie würde nicht mehr die Person sein, die sie immer gewesen war. Selbst die Chemie ihres Körpers würde anders sein. Sie würde sich von Grund auf verändern und konnte nichts dagegen tun. Manolito würde der Mann bleiben, der er immer schon gewesen war, nur dass er wieder Farben sehen und Empfindungen haben konnte. Er mochte denken, dass sie sich mit der Zeit an die Veränderungen gewöhnen würde, aber sie widerfuhren ja auch nicht ihm.
Adrenalin brodelte durch ihre Adern und mit ihm Wut. Wie konnte jemand anderes willkürlich und ohne ihre Zustimmung ihr Leben für sie bestimmen? Ohne sie zu fragen? Manolito. Ihre Eltern. Selbst ihre geliebten Großeltern. Wie konnten sie entscheiden, was das Beste für sie war, und sie selbst bei ihrer Entscheidung nicht nur außer Acht lassen, sondern sie ihr außerdem auch noch verschweigen?
Sie sprang auf, bevor Manolito merkte, dass sie sich bewegen würde. Keine noch so kleine Bewegung ihres Körpers hatte eine Veränderung angekündigt. Sie war einfach blitzartig auf den Beinen und sprang über das Geländer, bevor er wusste, was sie vorhatte. Mit angehaltenem Atem jagte Manolito hinter ihr her. Sie befanden sich etwa hundertfünfzig Fuß über der Erde. Der Sturz würde sie umbringen.
MaryAnn! Er rief ihren Namen, als er ihr folgte, und sandte Unmengen von Luft hinunter, um sie in der Schwebe zu halten, doch sie war schon unten, als er zu ihr hinunterschoss, und hockte in kämpferischer Haltung auf dem Boden.
Er verlangsamte seinen Fall, um sie genauer zu betrachten. Ihr langes Haar fiel ihr in üppigen, blauschwarzen Wellen über die Schultern und den Rücken, ihre Hände krümmten sich zu Klauen, und ihre Gesichtsknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer straff gespannten Haut ab. Sie wich vor ihm zurück, als er sich vor sie hockte.
»Ich will nach Hause.«
Er wusste, dass sie in guten Händen war – in seinen Händen, aber ihre Stimme zitterte, und sie sah so verängstigt aus, dass er sich schrecklich schuldig fühlte.
»Das weiß ich, MaryAnn. Ich werde dich zu dir nach Hause bringen, sobald ich kann.« Und ihm wurde klar, dass das die Wahrheit war. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass sie vielleicht wirklich Seattle brauchte. Dass sie diese kalte, regnerische Stadt vielleicht genauso sehr brauchte wie er den Regenwald. »Ich verspreche dir, csitri, dass ich dich nach Hause bringen werde, sobald ich das Reich der Schatten ganz verlassen kann.«
MaryAnn tat einen tiefen, unsicheren Atemzug. »Du
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