Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
schalten konnte. Außerdem war es geradezu unheimlich, wie genau sie spürte, in welcher Stimmung April gerade war.
»Seit wann kannst du meine Gedanken lesen?«, fuhr April fort. »Oder hast du wieder in meinem Tagebuch herumgeschnüffelt?«
»Ich bitte dich. Das habe ich gar nicht nötig. Wenn irgendetwas Schlimmes passiert, ziehst du ein Gesicht wie Ophelia, als sie ins Wasser ging. In Edinburgh hast du dasselbe Gesicht gezogen, als du dich in diesen Jungen mit den Sommersprossen verguckt hast … Neil Stevenson, so hieß er doch, oder?«
April verschlug es fast die Sprache. Neil war ihr erster richtig großer Schwarm gewesen, doch außer ihrer Freundin Fiona hatte sie niemandem davon erzählt. Einen Moment lang war sie wie versteinert; es durfte doch wohl nicht wahr sein, dass ihre Mutter die ganze Zeit über Bescheid gewusst hatte.
»Was? Du hast davon gewusst?«
Silvia lachte. »Ich glaube, alle wussten es, sogar der arme Neil. Du bist um ihn herumgetänzelt, als würdest du im Kopf Sonette dichten. Aber mir war die ganze Zeit klar, dass du jemand Besseren finden würdest. Und dein Gabriel soll ja richtig toll aussehen.«
»Oh Gott, Mum, wie kann man nur so oberflächlich sein?«
»Ich? Und wieso sind die Wände in deinem Zimmer mit lauter süßen Jungs gepflastert? Innere Werte sind wichtig, keine Frage, aber ein Mädchen will eben Schmetterlinge im Bauch spüren, so einfach ist das.«
»Gehst du deshalb jeden Abend weg? Weil du auf Männersuche bist?«
April wusste, dass sie damit eine Grenze überschritt, aber die Vorstellung, Silvia könnte sich mit anderen Männern treffen oder gar willentlich auf Männerfang gegangen sein, obwohl ihr Dad erst kurze Zeit unter der Erde lag, machte sie stocksauer.
»April«, sagte ihre Mutter in warnendem Tonfall. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«
»Oder etwa nicht? Was glaubst du eigentlich, wie ich mich fühle? Was würde Dad denken, wenn er wüsste, dass du abends schon wieder ausgehst und dich mit weiß Gott wem triffst? Nur ein paar Wochen nach seinem Tod!«
»Mich trifft das alles ebenso hart wie dich, April. Aber zwischen deinem Vater und mir … nun ja, wir hatten ein paar Probleme, die nicht so leicht zu lösen waren.«
»Du meinst, mit denen er sich abfinden musste.«
Silvia biss sich auf die Unterlippe, sichtlich bemüht, nicht die Fassung zu verlieren.
»Mag sein, dass du deinen Vater für einen Heiligen hältst. Aber er hatte auch seine Fehler.«
»Zum Beispiel?«
»Oh … Er wollte doch unbedingt hierherziehen! Wären wir in Schottland geblieben, wäre all das nie passiert. Und er wäre noch am Leben!«
»Ich dachte, wir hätten keine andere Wahl gehabt.« April senkte den Blick. Sie hatte einen Brief gefunden, in dem ihrem Vater eine Stelle in Glasgow angeboten worden war. Deshalb musste sie davon ausgehen, dass er sich entschlossen hatte, nach Highgate zu ziehen, um das Geheimnis der Vampire zu ergründen. Doch das konnte sie schlecht mit ihrer Mutter besprechen.
Silvia nahm einen Schluck von ihrer Bloody Mary.
»Tja, du weißt eben nicht alles.«
April runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll das denn jetzt bedeuten?«
»Ein junges Mädchen muss nicht alles wissen, April«, erwiderte Silvia. »Dein Vater und ich waren zwanzig Jahre verheiratet, und es gibt Dinge, die Erwachsene für gewöhnlich nicht mit ihren Kindern diskutieren.«
April musterte ihre Mutter. Wusste sie von dem Jobangebot in Glasgow? Wusste sie Bescheid über die Ermittlungen an ihrer Schule? Nein, das war höchst unwahrscheinlich. Sie konnte es sich nicht vorstellen.
»Aber warum sind wir überhaupt nach London gezogen? Mum, ich bin kein Kind mehr. Tu nicht immer so, als könnte ich solche Dinge nicht verstehen!«
Silvia gab ein hohles Lachen von sich.
»Da sei dir mal nicht so sicher.«
»Hör auf, mich so von oben herab zu behandeln!«
»Wenn du wie eine Erwachsene behandelt werden willst, dann fang erst mal an, dich wie eine Erwachsene zu verhalten.«
»Wie meinst du das? Indem ich Wodka trinke und in Bars irgendwelche Typen aufreiße?«
»Was fällt dir ein?«, keifte Silvia und knallte ihr Glas auf den Tisch. »Geh sofort auf dein Zimmer!«
April stieß ihren Stuhl zurück.
»Keine Sorge, mir reicht’s sowieso!«, sagte sie, stürmte aus der Küche, lief die Treppe hinauf und knallte ihre Zimmertür hinter sich zu. Dann warf sie sich aufs Bett und griff nach ihrem Handy. Du lieber Himmel, diese Frau ist unerträglich! Wie konnten
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