Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
knallte. Sie hatte nur eine Sekunde den Blick abgewandt, doch als sie wieder aus dem Fenster sah, war der Platz vor dem Haus menschenleer. April stellte sich dicht ans Fenster und spähte nach links und rechts, aber der Mann war spurlos verschwunden. Wer zum Teufel war das gewesen? , fragte sie sich beunruhigt. Die Kreatur, deren Stimme sie auf dem Friedhof gehört hatte? Sie setzte sich auf das Bett, doch gelang es ihr nicht, sich auch nur ansatzweise zu entspannen. Erst das Theater mit ihrer Mutter und jetzt auch noch ein unheimlicher Stalker. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihrer Mutter von dem Typen auf dem Platz erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Eigentlich hatte sie ja gar nichts Besonderes gesehen, bloß einen Passanten auf der Straße. Und ihre Mutter war bestimmt nicht in der Stimmung für weitere Diskussionen.
Stattdessen griff sie zu ihrem Handy und wählte Gabriels Nummer, doch es kam nur eine Automatenstimme: »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.« Typisch. Wieso war nie jemand erreichbar, wenn man jemanden brauchte? Seufzend stand sie auf und trat an ihren Schrank. Sie musste überlegen, was sie morgen anziehen sollte. Tja, was war die passende Kleidung, wenn man wieder zur Schule ging, nachdem man um ein Haar von einem Irren umgebracht worden war? Sie nahm ein paar Sachen aus dem Schrank und schmiss sie aufs Bett; ihr gefiel nichts. Sie warf einen Blick zur Schlafzimmertür; in solchen Fragen war ihre Mutter eine unschlagbare Ratgeberin. Vielleicht war es doch besser, wenn sie über ihren Schatten sprang und sich dafür entschuldigte, wie sie sich aufgeführt hatte.
Sie ging zur Treppe, holte tief Luft und legte sich im Geiste eine Entschuldigung zurecht: Stress, Sorgen wegen der Schule, Sehnsucht nach Dad – klar, alles wahr, aber deshalb musste man seine Mum noch lange nicht als Schlampe beschimpfen. Am Fuß der Treppe hörte sie plötzlich Silvias Stimme. Sie telefonierte gerade.
Neugierig hielt April den Atem an und lauschte.
»Ja, und wann?«, sagte Silvia. »Das ist nicht fair.« Silvia klang, als hätte sie geweint. Oh Gott, doch hoffentlich nicht meinetwegen!
»Ich weiß, ich weiß«, fuhr Silvia fort. »Aber ich kann so nicht weitermachen.«
Womit kann sie nicht weitermachen? , dachte April. Mit wem sprach Silvia?
»Ich will dich sehen. Ich muss dich sehen.«
April schlug das Herz bis zum Hals. Sprach ihre Mutter mit einem Mann? Einem der Typen, die sie bei ihren Touren durch die Bars aufgerissen hatte? Von einer Sekunde auf die andere waren ihre Reuegefühle wieder verflogen.
»Am selben Ort? Aber sei bitte auch da!«
April hörte, wie Silvia den Hörer auflegte, schlich auf Zehenspitzen zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Mit wem hatte sie gesprochen? Wen musste ihre Mutter unbedingt sehen? Hatte es irgendetwas mit ihrem Streit zu tun? Oder mit Dad? Könnte sie wirklich eine Affäre haben? Das war doch nicht möglich, oder? Dann hörte sie, wie die Haustür ins Schloss fiel. April sprang auf und flitzte ans Fenster, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ihre Mutter den Platz überquerte. Wo wollte sie hin? Und was war so wichtig, dass sie ihre Tochter allein in diesem dunklen, unheimlichen Haus zurückließ? Du liebe Güte, warum hatte sie keine normale Mutter wie andere Mädchen auch? Als sie sich vom Fenster abwandte, fiel ihr Blick auf die Klamotten auf dem Bett, und plötzlich musste sie lachen. Morgen würde sie wieder nach Ravenwood gehen, eine Schule, in der es von Vampiren nur so wimmelte – und von denen ihr jeder einzelne die Kehle herausreißen würde, sobald er von ihrem Geheimnis erfuhr. Ihr Freund war dem Tode nah. Jetzt sollte sie auch noch so tun, als könne sie ihn nicht leiden, und außerdem musste sie herausfinden, wer ihren Vater ermordet hatte – und warum. Und davon abgesehen hatte sie keine Ahnung, wem sie überhaupt noch trauen konnte.
»Scheiß auf die Klamotten«, sagte sie, kramte die Sachen zusammen und warf sie auf einen Stuhl. Um ihr Outfit würde sie sich morgen früh kümmern.
Heute Abend hatte sie weiß Gott andere Sorgen.
Zweites Kapitel
W ährend sie die Straße überquerte und der Wind das Gartentor hinter ihr ins Schloss warf, fragte sich April, wie lange es wohl noch bis zum Frühling dauerte. Du liebe Güte, war das kalt! Ein toller Start in ihr neues Lebensjahr. Sie schwang sich ihre wunderschöne neue Tasche über die Schulter – ein Überraschungsgeschenk von ihrer
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