Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
Mutter, das sie nach dem Aufwachen vor ihrer Zimmertür gefunden hatte – und stopfte die Hände tief in die Taschen. Sie ließ den Blick über den Platz schweifen, doch von der dunklen Gestalt, die sie am Abend zuvor bemerkt hatte, war weit und breit nichts zu sehen. Sie hatte kein Auge zugetan. Alle paar Minuten war sie aufgestanden und hatte aus dem Fenster gesehen, doch der Mann war nicht wieder aufgetaucht. Wahrscheinlich war es bloß ein Spaziergänger gewesen, der seinen Hund Gassi führte, hatte sie sich eingeredet – und es am Ende sogar halb geglaubt, aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste, oder? Hatte Gabriel nicht gesagt, sie würden nicht davor zurückscheuen, auch am helllichten Tag zuzuschlagen? Tolle Aussichten, die perfekt zu diesem trüben Tag passten. Sie blickte zum grauen Himmel hinauf und versuchte, sich zu erinnern, wann sie zuletzt die Sonne gesehen hatte. Eigentlich hätte sie das Wetter gewohnt sein müssen – schließlich hatte sie lange genug in Edinburgh gelebt –, aber irgendwie hatte sie sich mit der Kälte nie anfreunden können. Ja, im Süden war es wärmer, und einen Moment lang stellte sie sich vor, wie sie in einem leichten Sommerkleid Hand in Hand lachend mit Gabriel über eine Wiese lief. Wäre es nicht wunderbar, so frei zu sein, ohne Sorgen, Druck und Prophezeiungen leben zu können? Müssen sich andere Mädchen an ihrem siebzehnten Geburtstag auch Gedanken über irgendwelche Prophezeiungen machen?
Ihr Magen knurrte. April hatte absichtlich auf ihr Frühstück verzichtet, um ihrer Mutter nicht zu begegnen, auch wenn das ohnehin höchst unwahrscheinlich gewesen wäre – Silvia blieb, ein leeres Glas Wein mit lippenstiftverschmiertem Rand auf dem Nachttisch, meist bis zum späten Vormittag im Bett. April wusste nicht, warum sie sie anlog – oder, nun ja, diplomatischer ausgedrückt, ökonomisch mit der Wahrheit umging –, aber ihr war klar, dass sie an ihrem ersten neuen Schultag keine Lust auf weiteres Gekeife hatte. Daher war sie so schnell wie möglich aus dem Haus gegangen.
Als sie an der Kirche vorbeikam und den Hügel hinunterging, fiel ihr ein Wagen am Straßenrand ins Auge. Ihr Mut sank. An der Tür lehnte Detective Inspector Ian Reece.
Oh nein. Was will der denn schon wieder?
Für einen Polizisten war DI Reece eigentlich ganz nett, aber sie konnte sich weiß Gott Schöneres vorstellen, als an ihrem ersten Schultag nach dem Mordanschlag mit komplizierten Fragen behelligt zu werden.
»Hallo, April«, sagte er, als sie näher kam. »Heute darf man doch gratulieren, stimmt’s?«
»Danke«, sagte sie. »Mir ist allerdings nicht gerade nach Feiern.«
»Verstehe. Macht bestimmt keinen Spaß, ausgerechnet an seinem Geburtstag wieder zurück zur Schule zu müssen.«
Sie zuckte mit den Schultern »Das kann ich Ihnen sagen.«
Reece lächelte mitleidig. »Glaubst du, dass dich alle anstarren werden?«
»Ob ich das glaube? Ich weiß es sogar. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass ein Mädchen von einem Mitschüler um ein Haar massakriert wird. Sie werden alle die Narbe sehen wollen.«
Reece räusperte sich. »Also, ich will dich nicht lange aufhalten. Ich wollte dich nur über den Fall auf dem Laufenden halten.«
»Welchen? Meinen oder Dads?«
Er zog eine Grimasse.
»Im Fall deines Dads gibt es leider nichts Neues.«
Die Spur ist also so kalt wie der Hintern eines Polarbären , dachte April.
»Es geht um Marcus Brent«, fuhr Reece fort. »So wie es aussieht, hat er das Land gar nicht verlassen. Wir haben alle Passagierlisten und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras an Flug- und Fährhäfen überprüft. Ohne Erfolg.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er sich immer noch hier in der Nähe aufhält?«, fragte April und musste an das Gelächter auf dem Friedhof und die dunkle Gestalt unter ihrem Fenster denken. »Soll mich das jetzt beruhigen?«
»Es ist besser, du bist über alles informiert, April. So bist du sicherer.«
»Tja, ich fühle mich bloß nicht sicher.« April wickelte den Gurt der Tasche einmal um ihre Finger. »Ich hab was gesehen.«
»Was? Was hast du gesehen?«
April zuckte mit den Schultern. Was sollte sie jetzt sagen? Vampire, Mörder, Wahnsinnige?
»Ich weiß nicht«, seufzte sie. »Ich dachte, ich hätte gestern Abend jemanden auf dem Platz vor unserem Haus gesehen. Na ja, kann sein, dass es auch bloß jemand war, der einen Spaziergang gemacht hat, aber …«
Reece nickte. »Ich verstehe dich ja, April, aber es
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