Gefangene der Dunkelheit
zum ersten Mal an die Mutter des Kindes. Wie mochte sie gewesen sein? Was konnte ihr geschehen sein? Trauerten Clare und Tristan um sie? »Ich liebe Euch auch«, murmelte Clare, umfasste das Ende von Siobhans Zopf und hielt es an ihre Wange.
Sie hielt das Kind fest, bis sie es vom Schlaf in ihren Armen schwer werden spürte. Dann legte sie die Kleine sanft ins Bett und versuchte zu entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte.
Tristan hatte ihr gesagt, sie solle auf ihn warten. Aber wo konnte er hingegangen sein? Sie trat zur Tür, blickte hinaus und sah zwei Wachen im Gang herumlungern, nicht in Alarmbereitschaft, aber dennoch wachsam. Sie lächelte ihnen schwach zu und schloss die Tür wieder. »Gottverdammt«, murrte sie und biss sich auf die Lippen. Sollte sie den Rest ihres Lebens in diesem Turm eingesperrt auf das Verhängnis warten?
Sie schaute aus dem Fenster in Richtung Wald. Tristan hatte gesagt, er wolle ausreiten. Hatte der Herzog ihn begleitet? Sie strich mit der Hand über die Steine, die den Fensterrahmen einfassten, und zog die verfugten Spalten nach. Seit der Nacht, in der sie die Klippe erklommen hatte, um ihrem ersten normannischen Soldaten zu entkommen, hatte sie Höhen gehasst. Aber die Mauer war neu, und die Spalten waren tief. Sie zog sich mit unterdrücktem Seufzen um.
Tristan beobachtete, wie sich der Hirsch mühsam erhob und in den Wald davonstob. »Wir sollten Kühe halten«, murrte er.
Simon sah ihn für einen Moment entgeistert an und lächelte dann. »Das wäre vielleicht leichter.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ihr denkt wenig über das Blut nach, das wir nehmen, oder, Bruder?«
»Was gibt es darüber nachzudenken?« Das Tierblut war nicht vollkommen zufriedenstellend, aber es hatte seinem Hunger die Schärfe genommen.
»Wie nähren uns an Leben«, erklärte Simon, während sie durch den Wald gingen.
»Welcher Mensch tut das nicht?«, konterte er. »Wenn ich noch so wäre, wie ich einmal war, hätte ich den Hirsch getötet und ihn meinem Haushalt verfüttert. So wie ich jetzt bin, habe ich mich genährt und ihn wieder freigelassen. Ich nenne das Gnade.« Sie hatten die Pferde erreicht, die in einem Gestrüpp angepflockt waren, und er löste Daimons Zügel. »Der Hirsch würde mir wahrscheinlich zustimmen.«
»Aber nicht aller Eurer Beute wird diese Gnade zuteil.« Simons Pferd, Malachi, warf den Kopf auf und schnaubte, da er in der Gegenwart eines Dämons, der nicht sein Herr war, wie immer unruhig wurde. »Bedauert Ihr die Menschen nicht, die Ihr getötet habt?«
»Einige davon schon.« Er streichelte Daimons Hals, während er nachdachte. »Ich bedauere auch einige der Menschen, die ich als Soldat getötet habe. Wart Ihr nicht auch einst Soldat?«
»Ja«, räumte Simon ein. »Aber das war etwas ganz anderes.«
»Ja, das war es.« Er schwang sich in den Sattel. »Da hattet Ihr eine Wahl. Ihr musstet jene Menschen nicht töten, um überleben zu können. Ihr hättet Ihr Beschützer sein können.« Der plötzlich reumütige Blick seines irischen Bruders brachte ihn zum Lächeln. »Satanszeichen, Simon. Ihr könnt nicht für jedes Übel auf der Welt die Verantwortung übernehmen.«
»Nein, nicht für jedes.« Er stieg ebenfalls auf. »Nur für meine eigenen.«
»Seid ein wenig nachsichtiger mit Euch«, riet Tristan. »Ihr habt genug Buße getan.«
»Nicht annähernd«, erwiderte er. »Ihr, zum Beispiel. Ich bin schuld an Eurem Tod.«
»Ich vergebe Euch«, sagte Tristan. »Also, einer weniger.«
»Kein großer Fortschritt«, murrte Simon, aber er lächelte. »Reitet Ihr zum Schloss zurück?«
»Ihr nicht?« Daimon trottete im Kreis und wollte loslaufen.
»Nur um Orlando abzuholen«, antwortete Simon. »Er lässt Silas graben, aber er will die Katakomben währenddessen von der anderen Seite aus erkunden. Wir kommen in den Wald zurück.« Malachi scheute seitwärts, aber er führte ihn mühelos wieder zurück. »Ich könnte Euch vermutlich nicht davon überzeugen, mir zu helfen.«
»Ich wünschte fast, ich könnte es«, sagte Tristan mit schiefem Lächeln. »Aber ich habe immer noch meine eigene Suche.«
»Rache«, sagte Simon kopfschüttelnd.
»Nein.« Sein Freund blickte überrascht auf. »Wenn Lebuin geflohen ist, werde ich ihn nicht jagen. Aber ich muss mich versichern, dass mein Schloss sicher ist – dass meine Tochter und Siobhan sicher sind.«
»Ich dachte, Siobhan wäre der Feind«, sagte Simon sanft und zog eine Augenbraue hoch.
»Das
Weitere Kostenlose Bücher