Gefangene der Dunkelheit
seiner Meinung nach, überwiegend sinnlosen Suche zufriedenstellte.
Aber zuerst musste er sich um Siobhan kümmern.
16
Siobhan saß am Kamin der Turmhalle und lächelte ihrer Stieftochter über das Schachbrett hinweg zu. »Das ist die Königin«, erklärte sie und hielt die Figur hoch. »Sie ist dein mächtigster Soldat, die einzige Figur, die du über so viele Quadrate, wie du willst, in jede Richtung bewegen kannst.«
»Mächtiger als der König?«, fragte Clare.
»Viel mächtiger.« Sie stellte die Königin auf und nahm ihren elfenbeinernen Gefährten hoch. »Der König kann sich in jede Richtung bewegen, jedoch nur ein Feld auf einmal.«
»Aber der König ist derjenige, der gefangen genommen werden muss«, sagte Clare.
»Genau.« Sie stellte den König wieder auf seinen Platz und nahm erneut die Königin zur Hand. »Alle anderen Figuren beschützen den König vor dem Feind. Aber keine so gut wie die Königin.«
»Also liebt sie ihn«, entschied Clare.
»Vermutlich«, räumte Siobhan ein und lächelte über den drolligen Gedankensprung. »Aber vielleicht liebt sie es auch nur zu gewinnen.«
»Verzeihung, Mylady«, sagte der Ritter Sir Sebastian und verbeugte sich, als er sie erreichte.
»Euer Herr hat darum gebeten, seine Soldaten in dieser Halle zu versammeln. Darf ich Euch und Lady Clare ins Gutshaus zurückbegleiten?«
»Ihr habt mit Tristan gesprochen?«, fragte sie sofort wachsam. »Er ist aus seiner Höhle herausgekommen?«
»Er ist wach«, bestätigte der Ritter nickend und errötete leicht.
»Wunderbar.« Sie erhob sich ihrer Röcke ungeachtet mit der Anmut einer Kriegerin vom Kamin. »Komm, Clare.«
»Wartet, Mylady«, protestierte Sebastian.
»Nein, mein Herr. Das werde ich nicht.« Sie nahm Clares Hand und rauschte an ihm vorbei auf die Tür zu.
Tristan betrat genau in dem Moment den Raum, als seine Briganten-Braut an seinem armen Ritter vorbeistolzierte, als wäre er eine Statue, und seine Tochter an der Hand hielt. Diese beiden, die er liebte, schienen so vertraut miteinander. Clare hatte sogar Siobhans Gangart angenommen, lange, burschikose Schritte mit zurückgenommenen Schultern. Statt Seide oder Samt trug sie ein einfaches Wollkleid mit verräterischen Schmutzflecken an den Knien. Sein Engel war auch ein Wildfang geworden. »Schon gut, Sebastian«, rief er, und heftige, eifersüchtige Liebe für die beiden krallte sich wie eine Faust um sein Herz.
»Papa!« Clare riss sich von Siobhan los und lief zu ihrem Vater. Er fing sie wie immer auf, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste seine Wange. Aber bevor er antworten oder ihren Kuss erwidern konnte, schwappte eine Woge des Hungers über ihn hinweg. Der liebliche Duft ihrer Haut und der Klang ihres Herzschlags reizten den Dämon, der ihn besaß.
»Nimm sie!«, befahl er, elend vor Abscheu, während er sie Siobhan in die Arme schob.
Siobhan sah den jähen, goldenen Glanz in seinen grünen Augen, drückte das Kind fest an sich und wich zurück. »Alles ist gut, Kleines«, tröstete sie und wandte Clares Gesicht von dem Vampir fort zu ihrer Schulter. »Dein Papa ist noch krank.« Auch wenn sie ihn nicht geliebt hätte, hätte sie Mitleid für ihren Dämonenliebsten empfunden, als sie den entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Aber sie hatte auch Angst vor ihm. Wann immer sie ihn zuvor gesehen hatte, hatte er stets den Eindruck erweckt, die Macht in ihm unter Kontrolle zu haben. Nun war es offensichtlich nicht mehr so.
»Bring sie nach oben«, befahl er mit natürlicherer Stimme, während seine Augen wieder einfach grün wurden. »Warte dort in deinem Zimmer auf mich.«
»Nein«, antwortete Siobhan und schüttelte den Kopf. »Ich muss mit dir reden.«
»Ich muss gehen«, sagte er schroff. »Ich werde später mit dir reden, wenn ich zurückkomme …«
»Nimm mich mit …«
»Nein!« Clare hatte sich ihm wieder zugewandt, und ihre ebenfalls grünen Augen waren groß vor Verwirrung. Er lächelte und berührte ihre Wange. »Tu, was ich dir sage, Siobhan. Geh in dein Zimmer und warte auf mich.«
»Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet«, erklärte sie, und die Angst wich rasch dem Zorn. War auch sie ein Kind, das er ins Bett schicken konnte?
»Dann wird eine weitere Stunde kaum einen Unterschied machen.« Er berührte auch ihre Wange, und obwohl sie wusste, dass er eher sterben als die Worte aussprechen würde, sah sie das Flehen in seinen Augen. Seine Hände sind kalt, dachte sie. Sie nahm seine Hand, und die
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