Gefangene der Dunkelheit
Flüsterton. »Der Baumeister beschäftigt hier einen Trupp Erdarbeiter.«
»Erdarbeiter?« Callard hatte von Gängen unter dem Schloss gesprochen, Gänge, von denen Sean wusste, die er ihr gegenüber aber nie erwähnt hatte. Konnten Silas oder Tristan auch davon wissen? »Wonach graben sie?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte der Junge achselzuckend. »Es war die Idee des Kleinen, des Hofnarren des Herzogs.«
Sie hatte den Zwerg am Tag zuvor kaum bemerkt, so fest entschlossen war sie, Tristan zu sprechen, aber sie erinnerte sich dennoch an ihn, ein bärtiger, kleiner Mann in kunterbunter Kleidung. »Der Hofnarr sagt, sie sollen die Kerker umgraben, und Silas gehorcht ihm?«
»Sie sind alle verrückt.« Der Junge nickte. »Sie befinden sich am anderen Ende, fern von der Tür, die ich Euch zeigen werde. Aber Ihr müsst vorsichtig sein.«
Sie lächelte. »Das werde ich.«
Die Tür war kaum mehr als eine Luke, die dazu gedacht war, Abfall sowohl aus dem Kerker als auch aus den Zwingern in den Graben um den Turmhügel zu befördern, und so niedrig, dass sie auf Händen und Knien hindurchkriechen musste. Als sie erst hineingelangt war, kauerte sie sich zusammen, kroch durch die Dunkelheit und lauschte angespannt. Am anderen Ende des Kerkers grub tatsächlich eine Gruppe Männer ein Loch in den Boden. Silas stand über ihnen, das Kinn in der Hand, als wäre er tief in Gedanken versunken. Aber von dem Zwerg war nichts zu sehen. Unmittelbar der Stelle gegenüber, wo sie in den Schatten kauerte, sah sie eine geöffnete Zelle mit großen Betten und einigen Stühlen darin – Tristans unterirdisches Gemach. Sie beobachtete die Erdarbeiter lange, um sicherzugehen, dass sie in ihre Aufgabe vertieft waren, und lief dann durch den von Fackeln beleuchteten Gang.
Einige Schriftrollen waren auf einer Truhe ausgebreitet – eine Landkarte und einige andere, die mit Kauderwelsch in einer Schrift bedeckt waren, die sie nicht entziffern konnte. Beide Betten waren ordentlich gemacht, und Tristans Bauernkleidung lag gefaltet am Fußende des einen Bettes. Sie blickte erneut zu der Gruppe, die nur wenige Fuß entfernt arbeitete, hob die Papiere hoch und öffnete die Truhe.
Darin befand sich weitere Kleidung, die nach Tristan roch. Sie lächelte unwillkürlich und nahm sie heraus. Darunter lag das Abrechnungsbuch des Schlosses. Sie hatte es Sean viele Male begutachten sehen. Sie öffnete es und sah neue Berechnungen, die in Tristans Handschrift geschrieben waren – die Anzahl seiner Leute, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, sowie eine Liste der Vorräte, die der König geschickt hatte. Der Vampir wollte tatsächlich wieder der Herr seines Gutshauses sein.
»Ihr müsst Lady Siobhan sein.« Sie wandte sich um und sah den Zwerg hinter sich stehen. »Ich muss zugeben, ich habe Euer Gesicht gestern nicht sehr deutlich gesehen.«
»Ich habe Euch auch nicht gesehen.« Sie konnte vermutlich fliehen, aber was hätte das für einen Sinn? »Aber ja, ich bin Siobhan.« Sie schloss das Buch, machte aber keinerlei Anstalten, es fortzulegen. »Seid Ihr der Hofnarr des Herzogs?«
Er lächelte. »Ich fürchte, ich erheitere ihn nicht sehr gut. Nein, Lady.« Er trat mit entspannter Haltung näher. »Ich bin ein Zauberer. Mein Name ist Orlando.«
»Seid gegrüßt, Orlando.« Er betrachtete sie, und sein Blick verweilte auffällig lange auf ihrer Kehle.
»Seid wahrhaftig gegrüßt.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie nahm sie. »Ich denke, wir müssen über vieles reden.«
»Tatsächlich?« Sie legte das Buch wieder in die Truhe, durchsuchte sie weiter und zog ihr Schwert hervor, das Tristan mitgenommen hatte. »Wie kommt Ihr darauf?«
»Weil Ihr wisst, dass Euer Ehemann ein Vampir ist«, antwortete er. »Und Ihr habt ihn mit diesem Schwert zu töten versucht.«
»Was geht Euch das an?« Sie steckte das Schwert in ihren Gürtel. »Ihr sprecht von Vampiren, als wüsstet Ihr etwas darüber. Ich weiß nur sehr wenig.«
»Ihr wisst mehr als jede andere Frau, der ich in diesem Britannien begegnet bin«, antwortete er. »Wie kommt das, Mylady?«
»Ich habe einen Engländer geheiratet«, erwiderte sie. Unter dem Schwert lag der hölzerne Pfahl, der alt und trocken wie Knochen aus einem Grab war. »Und er hat eine Diebin geheiratet.« Sie nahm auch den Pfahl heraus und steckte ihn neben das Schwert.
»Wollt Ihr ihn noch immer töten?« Er fragte, als wäre er nur neugierig und als bedeutete ihre Antwort ihm sehr wenig.
»Nein«,
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