Gefangene der Dunkelheit
Mondlicht und erkannte, dass er es recht gut ertragen konnte. Die warme, wilde Freude, die er beim ersten Geschmack des Blutes empfunden hatte, war zurückgekehrt, zusammen mit einer schwächeren Nuance des Hungers, den er empfunden hatte. Er würde sich wieder nähren müssen, aber erst in einiger Zeit. Er konnte das Tageslicht nicht mehr ertragen, aber er konnte in der Nacht wandern.
Daimon graste auf der Wiese hinter der Hütte. »Komm«, sagte Tristan, und der Hengst gehorchte, vielleicht ein wenig langsamer, als er es getan hatte, als sein Herr noch lebte, aber doch rasch genug. Tristan konnte durch die geöffnete Hüttentür die blutigen Lumpen sehen, die er fortgeworfen hatte – das, was von seiner edlen, ritterlichen Kleidung noch übrig geblieben war. Nun war er wie ein Bauer gekleidet und trug das Schwert eines Adligen – wie einer von Lebuins Leuten. Er lächelte bei dem Gedanken und stieg in den Sattel. »Komm«, wiederholte er und lenkte sein Pferd auf den Waldweg. »Suchen wir Siobhan.«
Er hatte in seinem zerschlagenen, sterbenden Zustand erkannt, dass er einige Tage lang von seinem Heim fortgeführt worden war, aber anscheinend war das Schloss schon vor fast einer Woche gefallen. Lebuins Leute hatten ihn den ganzen Weg von der nördlichen Grenze zu den südlichen Ebenen gebracht, durch Ländereien, die er kaum kannte. Aber warum?, dachte er, während er aus dem Wald wieder auf die breite Straße gelangte. Warum hatten sie sich die Mühe gemacht, ihn zum Sterben so weit fortzubringen? Er erinnerte sich vage, dass einer der Briganten erwähnt hatte, sie wollten nicht, dass sein Leichnam gefunden würde, aber gewiss hätten die Wälder um Schloss DuMaine sein Grab ausreichend verborgen. Warum ihn nicht einfach gleich töten? Er merkte, dass seine Gedanken zu Siobhan wanderten, zu ihrem Gesicht, als sie ihren Bruder gebeten hatte, Richards Leben zu verschonen. Lebte Richard noch? Warum hatte es sie gekümmert? Waren ihre Gefühle der Grund dafür gewesen, dass Lebuin ihn zum Sterben hierhergeschickt hatte? Sie hatte ihn gequält, ihn verzaubert, ihn hintergangen. Aber sie hatte bei ihrem Leben geschworen, seiner Tochter Sicherheit zu gewähren.
»Teufelin«, murmelte er vor sich hin, und Daimon wandte die Ohren und lauschte. »Es ist nichts, mein Freund«, sagte er und streichelte den Hals des Pferdes. Die Frau war ihm ein Rätsel. Nichts an ihr ergab Sinn. Hätte er sie zuvor erwischt, als sein Schloss noch stand, hätte er vielleicht einige interessante Tage oder Monate damit verbracht, sie als Gefangene zu halten und alle ihre Geheimnisse kennenzulernen. Aber sie hatte stattdessen ihn gefangen genommen, sich seinen Zorn zugezogen und ihm zu großes Unrecht zugefügt, als dass er ihr jemals würde vergeben können. Und außerdem hatte er keine Zeit.
Er hatte sich in der Nacht zuvor wie in Trance bewegt, wobei ihm die seltsamen Ereignisse, denen er sein Leben verdankte, eher wie ein Traum als wie die Wahrheit erschienen. Aber nun, als er allein im Mondlicht dahinritt, durchdachte er sie erneut – der Wolfsritter, dessen Blut anscheinend sowohl seine Wunden geheilt als ihn auch für das Licht verdorben hatte, seine Flucht durch den Wald und sein Mord an dem Bauern, die brennende Sonne und der Name des Herrgotts auf seinen Lippen. Er war weder ein Gelehrter noch bußfertig. Er hatte seine Zeit für nützlicheres Streben verwandt, als alte Texte zu studieren oder Geistlichen zuzuhören. Aber er erinnerte sich an einen Barden am Hof König Heinrichs in London, der Geschichten über uralte sächsische Krieger erzählte, die nach ihrem Tod auf dieser Insel umherwandelten und Rache an ihren Mördern nehmen wollten. Allein ihr Zorn ließ ihre Körper auf eine unbestimmte Art nicht zur Ruhe kommen, nachdem ihre Seelen in die Hölle entflohen waren. Vielleicht war er wie einer von ihnen. Er hatte gewiss Grund genug dazu. Der Barde hatte nie erwähnt, wie diese Wesen entstanden. Vielleicht erzeugten sie sich gegenseitig, wie er von dem Wolf erzeugt worden war. So ein Ungetüm wäre für die Dunkelheit gemacht, dachte er, und stünde außerhalb von Gottes Gnade. Einem gottgefälligen Menschen würde niemals so etwas zustoßen. Sein Leichnam würde ruhen und darauf warten, im Paradies wiedergeboren zu werden. Aber Tristan war kein gottgefälliger Mensch, noch war er es jemals gewesen. Er hatte weder die Zeit noch die Geduld dafür gehabt. Gottes Himmel war ein hübscher Gedanke, aber die hässliche Erde war
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