Gefangene der Dunkelheit
verletzt, Mylady.« Als er das letzte Mal mit ihr zusammen gewesen war, hatte sie versucht, ihn mit einem Schwert zu töten, von dem Orlando glaubte, dass es verhext war. Der kleine Zauberer hatte gesagt, sie müsse wissen, was er war und wie er vernichtet werden konnte. »Tatsächlich bin ich auch jetzt noch nicht ganz genesen.« Was dachte sie wohl? Er bezweifelte nicht, dass sie ihn begehrte. Sie war vielleicht eine Teufelin und eine Brigantin, aber sie hätte ihre Gefühle niemals so gut verbergen können, hätte niemals das Verlangen, das er in ihrem Kuss geschmeckt hatte, vortäuschen können. Aber wollte sie ihn fast ebenso sehr tot sehen? Er dachte an ihr Geständnis vom Vorabend, an den herzzerreißenden Schmerz, den er in ihren Augen gesehen hatte, als sie ihm vom Tod ihres Vaters erzählt hatte. Solcher Schmerz konnte jeden Krieger in die Arme des Bösen treiben. Und seine Liebste war eine Kriegerin. »Aber Simon hat mich recht gut geheilt«, schloss er. Er hauchte einen Kuss auf ihre Handfläche, bevor er sich erhob. »Gut genug jedenfalls, um nach Hause zu kommen.«
»Ich habe es Euch gesagt«, sagte Clare glücklich und hängte sich an Siobhans freie Hand. »Ich sagte Euch, dass Papa nicht tot ist.«
»Und ich habe dir geglaubt.« Sie blickte lächelnd und mit wahrer Zuneigung zu seinem Kind hinab, und sein Herz krampfte sich vor Verlangen zusammen. Er erlaubte sich einen Moment die Vorstellung, dass dieses Spiel real wäre, dass er wieder ein richtiger Mann wäre und sie seine richtige Frau. Er hatte in seinem früheren Leben gewusst, dass er würde heiraten müssen, aber er hätte niemals gedacht, dass er lieben könnte. Liebe war etwas für Knappen und Poeten, halb mädchenhafte Wesen, die nichts anderes zu tun hatten. Er hätte sich niemals erträumt, dass es irgendwo auf der Welt Siobhan gäbe. Sie verfluchte ihn, bekämpfte ihn, forderte ihn bei jeder Wendung heraus. Ihre Schönheit war eine Last für sie, und sie gebrauchte ihre weiblichen Listen nur im Scherz. Aber sie bezauberte ihn, wie keine Lady von hoher Geburt es jemals gekonnt hätte.
»Siobhan«, fragte er, seine Stimme vor Empfindungen schroff, die er ihr nicht zu zeigen wagte. »Wo ist dein Bruder?«
Müssen wir so schnell darüber sprechen?, dachte sie und begegnete seinem Blick. Konnten sie nicht noch ein wenig länger heucheln? »Er ist fort, Mylord«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
Er streichelte mit dem Handrücken ihr Kinn und suchte in ihren Augen nach einer Lüge. »Das ist gut«, sagte er schließlich. »Ich werde ihn nicht vermissen.« Er wandte sich von ihr ab, hob Clare hoch und küsste sie. »Und du, Mylady, solltest im Bett sein.« Das kleine Mädchen wand eine Locke seines Haars um ihre kleine Faust und runzelte widerstrebend die Stirn. »Ich komme noch und gebe dir einen Kuss, bevor ich schlafen gehe.«
»Wirst du jetzt bleiben, Papa?«, fragte sie. »Werde ich dich morgen früh sehen?«
Simons Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Wollt Ihr Euer Kind in die Dunkelheit führen?, hatte er gefragt. Wollt Ihr als Dämon den Schlossherrn spielen? »Du wirst mich morgen früh nicht sehen, nur in der Nacht«, antwortete er und drückte sie an sich. »Aber ich werde immer noch hier sein.« Er übergab sie Silas. »Bringt Sir Sebastian, Master Nicholas und den Herzog von Lyan morgen früh zum Turm«, befahl er dem Gelehrten ruhig. Siobhan sah zu, war offensichtlich neugierig, aber schweigsam und zog nur fragend eine Augenbraue hoch. »Wir haben viel zu besprechen.« Die Halle füllte sich mit Rittern und Soldaten, und die Dienstboten servierten die Abendmahlzeit. Der Baron von Callard stand noch immer tief in eine Unterhaltung versunken bei Meister Nicholas. Aber während Tristan sie beobachtete, sah Callard zu ihm hoch und lächelte, und der Vampir hatte erneut das Gefühl, das sie sich schon früher begegnet waren. Er schaute zu Simon, seinem Vampirbruder, der mit Andrew und Sebastian sprach wie jeder andere Ritter, der eine Geschichte von fernen Ländern zu erzählen hatte.
»Mylord, seid Ihr erschöpft?« Siobhan legte eine Hand auf seinen Arm. »Wollt Euch zur Ruhe begeben?« Sie wusste, dass er nicht hungrig war, wenigstens nicht nach Essen, dachte er. Sie wusste, dass er ein Vampir war.
»Ja, Brigantin.« Er legte eine Hand auf ihre Wange, und sie lächelte, und das Verlangen in ihren Augen war unmöglich misszuverstehen oder zu übersehen. Als er sie so betrachtete, konnte er an nichts anderes mehr denken. Er
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