Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er winkte sie weiter.
»Geh voran, meine Tochter«, keuchte er. »Mein Körper wurde nicht für derlei Strapazen in dieser dünnen Luft an der Erdoberfläche geschaffen. Lass mich eine Weile ausruhen, und ich folge dir dann. Aber du musst dich beeilen. Der Sonnenstern ist fast untergegangen.«
Aeriel blickte zurück, tatsächlich stand die Sonne bereits tief über den Hügeln. Sie zögerte einen Augenblick, ließ Talb dann aber zurück und kletterte weiter, bis der Pfad so steil wurde, dass sie den Tempel nicht mehr sehen konnte. Sie musste sich auf ihren Wanderstab stützen. Orm breitete sich unter ihr aus. Sie entdeckte das Dach des Palastes und den Marktplatz. Mühsam kletterte sie eine weitere Anhöhe hinauf und stand plötzlich vor dem Heiligtum der Sibylle.
Es war aus dem Fels herausgehauen, der Stein darüber zu einem Dach geformt. Freistehende Säulen trugen das Portal. Auf dem Dach lag eine Löwin aus Stein, mit dem Gesicht und den Brüsten einer Frau, die ein großes schwelendes Becken, das voller Opfergaben war, zu bewachen schien.
Aeriel blieb stehen. Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Noch nie hatte sie einen Tempel betreten. Sie hatten ihr immer Angst eingejagt. Als Kind, im Haus des Dorfältesten, hatte sie Geschichten von Sklaven gehört, die auf den Altarklippen von Orm geopfert wurden.
Sie starrte auf das Becken zu Füßen des Portals, auf die Menge Blumen und Früchte, Silbermünzen, Seidenballen und gehämmerter Becher aus weißem Zinkgold. Sie hatte keine Gabe.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie kniete nieder, griff in ihr Bündel und nahm das blassgrüne Stück Ambra heraus. Sie hielt es in der ausgestreckten Hand über das Becken. Hitze wie von glimmenden Kohlen stieg daraus auf. Sie legte den Klumpen zu den anderen Gaben.
»Komm in den Tempel«, sagte da jemand hinter ihr. »Ich habe schon auf dich gewartet.«
15
Die Sibylle
A eriel drehte sich schnell um, doch niemand stand vor dem Tempel. Sie sah nun, dass der Eingang aus einer natürlichen Öffnung im Felsen bestand. Dann hörte sie leisen, überirdischen Gesang.
»Sibylle?«, fragte sie. Keine Antwort. Aus der Opferschale rauchte es. Die steinerne Löwin lag reglos da, das Gesicht der Sonne zugewandt. Die Ambra hatte Aeriels Hand fettig gemacht. Sie rieb das süß riechende Zeug an einem Arm ab. Der Gesang dauerte an. Aeriel betrat den Tempel.
Das Innere der Höhle war nicht größer als ein Gemach. Das Licht des Sonnensterns strömte durch die Tür herein. Am anderen Ende des Raums stand ein Altar aus Stein, schwarz wie Obsidian und glatt. Ein schwacher Geruch schien von dort zu kommen, ein bitterer Duft, und ein leises Summen.
An einer kleinen Feuerstelle saß eine Frau in grobes Sackleinen gehüllt und spann. Ihre große Spindel war aus dunklem Eisen. Sie spann einen groben Nesselfaden. Das Gesicht der Frau lag im Schatten, und sie sang dieses Lied ohne Worte.
»Bist du die Sibylle?«, fragte Aeriel.
Die Frau hob den Kopf. Ihr Gesicht war zerfurcht. Sie trug keinen Schleier, nur eine Bandage über den Augen. »Was? Ist jemand hier?«
Ihre Stimme war sanft, wie Papier, das über Sand streicht. Die Glut der Kohlen warf seltsame Schatten über ihre Züge. Aeriel kniete nieder.
»Sibylle«, sagte sie, »ich brauche deine Hilfe. Ich bin aus Isternes gekommen und bitte dich um die Lösung eines Rätsels. Mein Name ist Aeriel.«
»Aeriel?«, wisperte die alte Frau. Ihr Haar war nicht gekämmt, ihre Finger fleckig vom Spinnen. »Aeriel, meine Mitbewohnerin im Haus des Dorfältesten?«
Ihre dürren schwieligen Hände fuchtelten in der Luft herum. Aeriel schrak heftig zusammen; sie erkannte die Alte jetzt. Ihr fielen die Jahre im Haus des Dorfvorstehers in Avaric wieder ein, wo eine Verrückte gelebt hatte, die schreckliche Geschichten erzählte, wie sie einst den Sohn ihres Königs in einen See gestoßen habe als Tribut für eine Hexe.
»Dirna«, sagte Aeriel atemlos.
Ledrige Hände betasteten ihr Gesicht. »Du bist es!«, rief die blinde Frau. »Meine kleine Aeriel. Aber was tust du hier, meine Liebe? Wir alle hörten, dass du davongelaufen bist … Oh, vor langer Zeit.«
Aeriel nickte. »Ja. Ich ging in die Berge zurück, wo Eoduin entführt wurde. Der Engel der Nacht kam wieder und trug mich davon. Aber was machst du hier? Ich muss mit der Sibylle sprechen. «
»Oh, ich habe dich nie gut behandelt«, jammerte Dirna, »aber
ich wollte dir nichts zuleide tun. Damals
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