Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Ravennas verbittertes Lachen. »Kind, Kind«, sagte sie. »So war es nicht. Wir sind wahrlich vor langer Zeit von Oceanus gekommen, und wir haben alles Leben auf dieser Welt erschaffen. Aber schwerlich aus Liebe – lediglich zur Zerstreuung. Zu unserem Zeitvertreib. Wir haben unser Wissen nie mit euch geteilt. Wir haben es angehäuft und euch so ungebildet wie irgend möglich gelassen.«
Auf einmal drehte sich die Gottgleiche um und schritt kopfschüttelnd auf und ab.
»Diese Welt war unser Lustgarten«, fuhr die dunkle Alte fort, »und wir erachteten euch, die Einwohner, die wir geformt hatten, nicht als unsere Kinder, sondern als schmückenden Zierrat. Unser Hab und Gut. Sklaven.«
Sie kam näher, kniete wieder vor Aeriel und sprach eindringlich auf sie ein. Eine Handbewegung von ihr dämpfte das Licht in der Kammer. Das Schwert zischte. Das Licht der Perle glühte. Aufs Neue schossen die farbigen Feuerperlen herbei, jedoch zeichneten sie sich dieses Mal nicht auf der Oberfläche der Glaskugel ab. Sie wirbelten hellleuchtend in Aeriels Bewusstsein. Mit einem lauten Keuchen berührte Aeriel das Juwel an ihrer Stirn und betrachtete die Bilder, die vor ihrem inneren Auge tanzten.
»Wir sind ein sehr altes Volk, Aeriel«, sagte die Gottgleiche, »unermesslich gelehrt, aber bei weitem nicht weise. Einst bereisten unsere Wagen die entlegenen Himmelssphären. Doch das war vor langer Zeit. Dieser Mond, deine Welt, lag damals verlassen
da, tot – bis wir uns entschlossen, ihn bewohnbar zu machen. Wir erzeugten Dämpfe zum atmen, Menschen, Tiere, Pflanzen. Mein Volk konnte Dutzende von Stunden außerhalb der Glaskuppeln verbringen, bevor wir genötigt waren, zurückkehren. Und so stiegen wir vom Himmel herab, um in unserem Garten zu lustwandeln.«
Die Perle zeigte Aeriel alles, was Ravenna beschrieb: die riesige Maschine, die Luft herstellte, die Welt, die mit Flora und Fauna erblühte, die ersten kleinen Tiere, die ausgesetzt wurden.
»Schließlich entwickelte sich die Natur auf diesem Planeten von ganz alleine weiter. Wissenschaftler eilten herbei, mischten sich unter euer Volk und studierten es. Ich war eine von ihnen. Doch auch ich vergeudete leichtfertig meine Zeit – zu meinem tiefsten Bedauern. Wir alle waren unbesonnen. Unzählige von euch sind unsere Nachkommen, wenn auch vor vielen Generationen gezeugt. In meiner Torheit habe ich eine Tochter geboren und hier, in NuRavenna, aufwachsen lassen, als eine der unseren.«
Ein verzweifeltes Seufzen folgte. Aeriel betrachtete das von der Perle hervorgerufene Abbild der Ravenna, Jahrhunderte jünger, einen hellhäutigen Säugling in Armen wiegend. Die Gottgleiche stöhnte auf.
»Ich hätte es meinen Gefährten gleichtun sollen: Sie schicken ihre eigenen Halbling-Nachkommen in eure Welt, damit große Helden oder Königinnen aus ihnen werden. Stattdessen habe ich sie selbstsüchtig bei mir behalten, mit dem Versprechen, sie eines Tages in meine Heimat zu bringen. Eine Lüge, auch wenn ich die verzweifelte Hoffnung nie verlor, mein Versprechen irgendwann
einzulösen. Aber dieses Ziel erwies sich als aussichtslos. Kein hier geborenes Geschöpf kann auf Oceanus überleben. Die Anziehungskraft unserer Welt würde euch in Stücke reißen. Dennoch wog ich meine Tochter in dem Glauben, sie sei eine der Altvorderen, und dass Oceanus ihr von Geburtsrecht zustehe. Wieder und wieder verschob ich meine Rückkehr, zögerte den unausweichlichen Moment hinaus, an dem ich ihr die Wahrheit offenbaren musste.«
Aeriel sah ein junges Mädchen, auf der Schwelle zur Frau, mit denselben stolzen Wangen und derselben hohen Stirn wie ihre Mutter, das Haar ebenso rabenschwarz wie das der anderen. Ihre Nase hingegen war schmaler als Ravennas, das Kinn ausgeprägter, ihr Teint blasser, die Augen schräg stehend und grün.
»Oriencor«, hauchte Ravenna. »Oh meine Tochter, Oriencor! «
Stille breitete sich aus. Schließlich erhob sich Ravenna.
»Dann ereilte uns die Neuigkeit. Wir wurden zurückbeordert. Eine schreckliche Katastrophe war unserem Heimatplaneten widerfahren: Krieg, ein Unheil, das seit Jahrhunderten nicht über uns eingebrochen war. Einige meiner Gefährten hatten Kriege zwischen euch, auf eurer Welt hier, angezettelt, damit sie ihre Verläufe analysieren konnten, doch dass unsere Welt eines Tages von einer solchen Tragödie heimgesucht würde, hätte sich niemand träumen lassen.
»Ein Großteil von uns eilte augenblicklich nach Hause. Meine Tochter war begierig, sich dem
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