Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
weiß.
7
Ravennas Tochter
A eriel erhob sich von ihrer Lagerstatt. Sie trug ein langes, helles, ärmelloses Kleid. Dicht gewebt und schwer, glich es keinem Gewebe, das sie kannte. Ihr gelber Hochzeitssari lag zu einem kleinen Viereck gefaltet am Fußende des Ruhebetts. Unwillkürlich griff sie danach und stopfte ihn unter das Oberteil ihres neuen Gewandes.
Die plötzliche Bewegung ihres Armes kam ihr ungewohnt vor. Das beklemmende Gefühl des Neuen erfüllte sie noch immer. Aeriel schüttelte sich. Mit einem forschenden Blick auf die leuchtend weiße Perle in ihrer Hand sah sie, dass eine winzige Kette daran befestigt war, ein Hauch von Silber, so durchschimmernd, dass es mit bloßem Auge kaum zu sehen war. Es kitzelte ihre Handfläche wie seidenweiche Spinnfäden.
»Was hast du mit meiner Perle angestellt?«, fragte sie. »Sie brennt in einem anderen Farbton.«
Ravenna stand neben dem Ruhebett. Sie wirkte unvorstellbar erschöpft, viel abgehärmter als bei dem letzten Treffen mit Aeriel. Ihre Augen funkelten vor Sorge.
»Ich habe sie zu einem Gefäß geformt, mein Kind, in das ich
einen kostbaren Schatz von unvorstellbarem Wert zu legen gedenke. Diesen Schatz sollst du für mich hüten.«
Als sich Ravenna herabbeugte, stieg Aeriel ein weiteres Mal der Duft von eigentümlichen, exotischen Blumen in die Nase, der von der Gottgleichen ausging. Die langen, zartgliedrigen dunklen Finger der anderen nahmen die Perle aus Aeriels Handfläche. Im nächsten Moment spürte sie, wie ihr die filigrane Kette umgelegt wurde und die Perle nun hellleuchtend auf ihrer Stirn ruhte.
Das weiße Licht des Kleinods veränderte Aeriels Blick. Mit einem Schlag bemerkte sie Details, die ihr nie zuvor aufgefallen wären: winzige Risse in der gläsernen Zimmerwand, jeden einzelnen Faden im Gewand der Alten, den Schimmer eines Staubkorns auf ihrem Schuh. Und das verästelte Netz aus zarten Falten auf dem Gesicht der anderen.
Erschrocken erkannte Aeriel, wie alt Ravenna war. Anstatt ihr die Sicht zu rauben, schien das milchige Licht der Perle ihre Sinne zu schärfen. Plötzlich fühlte sie sich stark. Auch das verdankte sie der Perle, davon war Aeriel überzeugt. Ravenna seufzte leise, und Aeriel spürte die unzähligen kleinen Luftwirbel, die der Atemzug der Alten in Bewegung setzte. In wilden Kreisen kräuselten sie durch das Gemach, seidig weich wie Daunenfedern.
»Du bist meine Gesandte, Aeriel«, sagte die Gottgleiche und streckte die Hand aus, als wollte sie etwas aus der Luft klauben. »Diese Bürde hier musst du ebenfalls tragen.«
Plötzlich, wie von Geisterhand herbeigeschafft, umklammerte sie ein schnörkelloses Schwert. Silber glänzend, über drei Fuß lang, erleuchtete es das Zimmer: Ein gespenstisches Feuer züngelte
um seine Klinge, das erst knapp unter der breiten Parierstange endete. Aeriel starrte überrascht. Nach einer weiteren Geste der Gottgleichen erschien in ihrer anderen Hand eine mit komplizierten Mustern eingravierte Schwertscheide. Sie schob die brennende Gleve in die Scheide, die Flamme erlosch, und schlagartig sah Aeriel, was die andere da hielt.
»Die silberne Nadel!«, schrie sie und taumelte zurück, während eisiges Entsetzen sie packte. Ravenna war es auf irgendeine Weise gelungen, sie zu verändern – zu vergrößern, in ein Schwert zu wandeln. Dennoch konnte es sich nur um die Nadel handeln, diesen silbernen Splitter, mit dem der Schwarze Vogel der Hexe sie damals bannte. Es war die Perle, die ihr dieses Wissen zuflüsterte. Ravenna nickte.
»Nimm sie, mein Kind! Sie kann dir von nun an kein Leid mehr zufügen.«
Aeriel starrte auf die Waffe in den Händen der Gottgleichen. Um keinen Preis wollte sie das Schwert berühren. Doch die andere drängte ihr das Geschenk regelrecht auf, hielt es ihr weiterhin hin, geduldig abwartend. Schließlich streckte Aeriel den Arm aus und strich mit der Hand über die verzierte Scheide. Zuerst hatte sie angenommen, sie sei aus Metall gefertigt, doch dann erkannte sie, dass es Holz war. Die eingeritzten Schnörkel schienen ein Muster zu formen, ein Gebilde, das sie nicht entschlüsseln konnte, selbst mit Hilfe der Perle nicht.
»Ist diese Waffe für Irrylath bestimmt?«, flüsterte Aeriel. »Soll ich sie ihm bringen?«
Die Gottgleiche schüttelte das Haupt. »Er besitzt die Diamantenklinge. Er braucht kein weiteres Schwert.«
Durch die Scheide hindurch ging von der Gleve eine schwach pulsierende Wärme aus. Sie bebte leicht, wie der zitternde Flügelschlag
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