Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
dass dir keine andere Wahl bleibt?«
Eisiges Entsetzen packte Aeriel. Nein. Nie … nicht Irrylath! Sie schüttelte den Kopf.
Ravenna seufzte. »Schon bald wird es mir so ergehen … Ich werde das opfern, was ich am meisten liebe, zum Wohle der Welt. Komm, mein Kind! Lege dein Schwert an. Die Zeit ist gekommen, dir die fehlenden Verse des Reims anzuvertrauen und mein Geschenk in die Perle zu legen.«
8
Reim und Schatten
B ei den Worten der Gottgleichen schlug Aeriel das Herz höher. Endlich würde sie das Ende des Rätsels in Erfahrung bringen. Beinahe ungeduldig tastete sie nach dem Schwert, das die andere ihr überreicht hatte. Das sonderbar magische Pulsieren, das von ihm ausging, beunruhigte sie noch immer zutiefst, doch sie kam Ravennas Bitte nach und gürtete die lange Klinge. Sie vertraute der dunklen Göttin blind. Ravenna nickte.
»Und nun sag den Reim auf.«
Eine Hand auf dem Schwertgriff, die andere an der Perle auf der Stirn, schloss Aeriel die Augen und begann:
»Durch Avarics flache Länder …«
Sie trug den Reim vor, bis sie seinen letzten Vers erreichte:
»Der Weißen Hexe Helferin
wird nicht mehr sein.«
Sie wusste nicht weiter und verstummte. Ohne die Augen zu öffnen, spürte sie das Lächeln der Gottgleichen.
»Du kennst einen Großteil. Gut. Das ist der Rest:
»Hieran wird ein grausamer, blut’ger
Krieg ausbrechen,
um ein Land, öd und verbrannt,
zu rächen.
Mit einem leuchtend Flammenschwert,
wird ein Schatten …«
Unvermittelt brach sie ab. Aeriel blinzelte überrascht. Ein Bild, geformt aus Feuerperlen, blitzte an der Wand aus tiefblauem Glas auf. In den dunklen Gesichtszügen erkannte sie Ravennas Gefolgsmann.
»Herrin, auf ein Wort«, begann er.
»Melkior«, rief die Gottgleiche leise. Ihre Bestürzung blieb Aeriel nicht verborgen. »Ich erbat mir ungestörte Ruhe.«
»Vergib, Herrin. Die Zwerge verlangen …« Er hielt jäh inne und sah über ihre Schulter zu Aeriel. »Sie ist erwacht«, murmelte er fassungslos. »Du wolltest nach mir rufen, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist.«
Ravennas presste die Lippen aufeinander, doch nicht vor Ärger. »Die Zeit drängt«, erklärte sie.
Der dunkelhäutige Mann riss erschrocken die Augen auf. »Und du hast ihr das Schwert überreicht? Du gabst mir dein Wort, es erst zu tun, wenn …«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir Gram ersparen.«
»Nein!«, schrie Melkior. »Herrin, habe Geduld! Habe Geduld, bis ich komme!«
Sein Bild verschwand. Ravenna wirbelte herum. »Beeilung, mein Kind!«, drängte sie. »Ich hatte gehofft, die Angelegenheit zu beenden, während Melkior noch mit deinen Gefährten beschäftigt ist, doch er wird jeden Moment hier sein. Schnell, zieh das Schwert!«
Aeriel starrte die Gottgleiche an. »Soll ich dich etwa gegen deinen Gefolgsmann verteidigen?«, stammelte sie.
Hastig schüttelte die dunkle Herrin das Haupt. »Nein. Das würde ich nie von dir verlangen. Auch soll Melkior kein Schaden zugefügt werden. Aber wir dürfen keine Zeit vergeuden. Zieh die Gleve!«
Aeriel kam ihrem Befehl nach. Fast ohne ihr Zutun sprang die Klinge aus der Scheide. Das trübe Feuer, das sich um die Waffe züngelte, brannte leise zischend.
»Halt sie vor dich«, bat Ravenna.
Aeriel hielt die Gleve mit der Spitze nach oben, umklammerte ihr langes Heft mit beiden Händen. Leicht wie eine Feder zeigte die Waffe summend in die Höhe. Entschlossen berührte die Gottgleiche die Spitze. Aeriel zuckte zusammen, sie spürte eine Welle von Energie durch die Gleve schießen. Die Perle auf ihrer Stirn loderte, und für einen kurzen Moment flammte das weiße Feuer entlang des Schwertes in einer wahren Farbexplosion auf.
»Steck sie wieder ein«, sagte Ravenna.
Aeriel schob die Waffe, erneut von einem weißen Funkeln umhüllt, in ihr Futteral. Das Licht der Perle auf ihrer Stirn war
erloschen. Die Gottgleiche nahm Aeriels Hand, sie schien auf einmal atemlos.
»Hab keine Angst«, sagte sie.
Behutsam wölbte sie die Handflächen um die Stirn des blassen Mädchens. Aeriel hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, kopfüber ins Leere zu stürzen, oder als drehte sich ein unzerstörbarer Faden aus Ravenna in die Perle. Seine Macht hielt Aeriel gefangen. Sie war wie versteinert. Um sie herum war nichts als Flirren – merkwürdige Magie, unbeschreibliche Zauberkraft, das Muster der Welt –, und alles drängte sich in das Innere des Juwels. Schon im nächsten Moment schrumpfte der Faden und verblasste
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