Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
überreden könnte, diesem wahnsinnigen Rachefeldzug zu entsagen, die Welt zu erneuern und nach NuRavenna zu kommen, um nach mir zu herrschen …«
Die Alte hielt inne und wandte sich ab. Aeriel sah sie an.
»Wie kann ich helfen, Herrin?«, fragte sie endlich.
Die Gottgleiche drehte sich wieder um. »Zermalme die Armee der Hexe!«, erwiderte sie mit solcher Inbrunst, dass Aeriel zusammenzuckte. »Vernichte die Engel der Nacht! Und leg ihr die Weltenperle in die Hand!«
Aeriel starrte sie unverhohlen an, sie war vollkommen erstaunt
über Ravennas Bitte. Sollte sie, Aeriel, die Lorelei bekehren, wie sie einst einen Engel der Nacht befreite? Aber die Hexe war viel mächtiger und böser, als ihr unfertiger Vampir-Sohn es je gewesen war. Wenn Oriencor gar nicht errettet werden wollte? Wenn sie die Zauberkraft der Perle nun für ihre abscheulichen Ziele nutzte?
Doch Ravenna war derart überzeugt, dass Aeriel nicht zu widersprechen wagte. Immerhin war sie eine Gottgleiche, von Wissen beseelt, das weit über Aeriels Horizont hinausging. Ich bin nur die Botin , sagte sie sich. Vielleicht ist es nicht von Bedeutung, dass ich verstehe . Die Gottgleiche schritt von innerer Unruhe geplagt auf und ab.
»Was hält die Zukunft für uns bereit, Aeriel, weißt du es?«
Aeriel schüttelte den Kopf. Ravenna seufzte.
»Ebenso wenig wie ich. Unzählige Möglichkeiten offenbaren sich uns. Eine Unendlichkeit: Das Schicksal ist nicht vorherbestimmt. «
Aeriel nickte, in dem verzweifelten Versuch, den Worten der anderen Sinn zu verleihen. Talb, der Magier, hatte ihr einst, vor vielen Tagmonaten, genau dasselbe gesagt. Ihre Gedanken schweiften zu Königin Syllvas Armee, die sie am Rande der Sandwüste erwartete, abmarschbereit – oder hatten sie sich bereits auf den Weg gemacht? Wie lange war sie mit der Hexennadel im Kopf ziellos umhergewandert, und wie lange lebte sie schon hier in Ravennas Obhut? Die andere kam auf sie zu, streckte wieder die Hand nach der Perle aus, und wieder erhaschte Aeriel einen sonderbar flüchtigen Blick auf die gewaltige Macht der Gottgleichen.
»Dieses Juwel, mit dem ich dir die Vergangenheit zeige«, sagte sie, »kann auch die Zukunft lesen. Ich habe noch weitere Juwelen hier in der Stadt. Und ich verbrachte endlose Stunden mit der Suche nach einer Lösung, um dem Wahnwitz meiner Tochter ein Ende zu bereiten.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Aeriel.
»Vieles.«
Wiederum tauchten verzerrte Bilder im Kopf des blassen Mädchens auf.
»Ich habe deine Armee besiegt und Oriencor triumphieren gesehen. Ich habe gesehen, wie Irrylath meiner Tochter die Diamantenklinge ins Herz stößt. Ich habe gesehen, wie er umkommt …«
»Nein!«, schrie Aeriel unwillkürlich, als die Szene vor ihr Gestalt annahm, auch wenn diesen Bildern ein flimmernder, ungewisser Ausdruck anhaftete. Im Vergleich zur Vergangenheit waren sie nicht eindeutig und klar. Dennoch wich Aeriel erschrocken zurück. Ravenna nickte.
»Dein Gemahl, ja«, sagte sie, »der einst meiner Tochter diente.«
Beim Gedanken an Irrylath empfand Aeriel Schmerz, Wut und Eifersucht. Verzweifelt versuchte sie, ihr Bewusstsein zu verschließen, das furchterregende Bild zu vertreiben, das die Perle dort webte: Irrylath, der vom Rücken des Avarclon fiel und kopfüber durch den Himmel in die aufgewühlte Leere stürzte. Die Szene wollte nicht verblassen. Aeriel schauderte. Eine Träne, heiß und salzig, lief ihr über die Wange.
»Sag, es wird nicht geschehen«, flüsterte sie. »Sag, dass Irrylath nicht umkommt.«
Die Gottgleiche wischte ihr mit ihrer mächtigen, dunklen Hand die Träne von den Lippen.
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte sie betrübt. »Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich habe ihn am Ende des Krieges auch überleben sehen. Du wurdest getötet. Ihr alle fandet den Tod. Es gibt unzählige Möglichkeiten, und keine ist wahrscheinlicher als die andere.«
Sanft berührte sie die Wange des blassen Mädchens, und Aeriel roch Myrrhe. Die entsetzlichen Vermutungen der Perle lösten sich auf. Aeriel seufzte erleichtert.
»Deshalb habe ich den Vers gedichtet«, erklärte Ravenna, »um dich und die lons, die ganze Geschichte, in Richtung der besten Zukunft zu geleiten, die sich mir eröffnete.«
Die Gottgleiche beäugte sie nun mit sehr traurigem Blick.
»Hat dein Herz jemals an etwas gehangen, mein Kind?«, fragte sie, »hast du es mit solcher Inbrunst geliebt, dass du annahmst, es niemals aufgeben zu können, um dann zu erfahren,
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