Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Sie eilte zum großen Ratszelt in der Mitte des Lagers. Der Pavillon aus rosenroter Seide blähte sich seufzend und knirschend in der schwachen Wüstenbrise. Die Wachposten standen mit offenem Mund da, doch diese besaßen die Geistesgegenwart, ihre Speere zu kreuzen. Erin blieb stehen. Aeriel vernahm Stimmen durch den offenen Zelteingang.
»Mein Sohn, wir müssen dringend weiter …«
»Bruder, Aeriel hin oder her, unsere Truppen können hier nicht länger untätig verweilen.«
»… Nachtschatten auf Nachtschatten vergeht, Cousin, verrinnt uns zwischen den Fingern …«
Mit der Hand auf dem Schwertgriff befahl Erin den Wachen: »Lasst mich eintreten. Ich komme von Aeriel.«
Mit einem Schlag verstummte die hitzige Diskussion im Innern.
»Wer ist da?«, wollte eine Stimme wissen. Sie gehörte zweifellos Irrylath. Aeriel kämpfte gegen ihr wild pochendes Herz an.
»Wache, antworte deinem Gebieter!«, forderte eine zweite Stimme, schriller im Klang, jedoch der des Prinzen erschreckend ähnlich: seine Cousine, Sabr.
Aeriel spürte einen Kloß im Hals, und Bitterkeit stieg in ihr auf. So bald hatte sie nicht an die Banditenkönigin denken wollen. Andere Stimmen mischten sich murmelnd ein. Auf Irrylaths Geheiß lösten die beiden Wachen ihre Speere und schritten beiseite. Erin betrat das Zelt. Durch die Augen des dunkelhäutigen Mädchens erhaschte Aeriel einen Blick auf Königin Syllva und ihre Isterner Söhne, ihren eigenen Bruder Roschka und Talb, den Magier – selbst den Löwen Pendarlon.
Sie waren um einen klappbaren Tisch versammelt, auf dem eine Karte lag, die mit sonderbaren Gegenständen beschwert war: ein mit Leder ummantelter Dolch, ein Krug, ein Stein. An der Kopfseite des Tisches schob sich jemand an den anderen vorbei. Benommen vom Durchqueren des Ödlands und in ihre Vision vertieft, stolperte Aeriel. Bestürzt hielt sie inne. Beinahe hätte sie den Mann nicht erkannt. Sie spürte, wie Erins Fassungslosigkeit ihre eigene spiegelte.
»O Gemahl!«, murmelte Aeriel. »Irrylath.«
Er war erschreckend dünn, bis auf die Knochen abgemagert. Die breiten, hohen Wangenknochen stachen spitz hervor, seine Wangen waren eingefallen und von Schatten umrissen. Das Hemd hing ihm in weiten Falten von den Schultern, es war an der Hüfte mit einer Schärpe festgezurrt. Er glich einem Windhund, einer ausgezehrten Wüstenkatze, einem Mann, von Schuld zerfressen, die ihn wie ein loderndes Feuer zu verzehren drohte.
»Er wird den See der Hexe nicht lebend erreichen!«, flüsterte Aeriel entsetzt, und ein Bild wallte erneut in ihr auf, Irrylath, der in eine sturmgepeitschte Leere stürzte. Verzweifelt verbannte sie
den Angst einflößenden Gedanken. Sie stand wie versteinert mitten in der flachen grauen Weite des Ödlands und starrte ins Nichts, Sie sah nur, was in Syllvas Lager, meilenweit entfernt, vonstattenging, beobachtete das Geschehen durch Erins Augen.
»Du hast dich verändert, Prinz«, sagte das dunkelhäutige Mädchen. Einige Schritte trennten sie voneinander.
»Und du«, erwiderte der Angesprochene, »ehemalige Gefährtin meiner Gemahlin, du, die uns so jäh verließ, heimlich, so kurz nach ihrer Entführung, dass sich viele wunderten, welche Rolle du bei diesem Verbrechen gespielt haben mochtest.« Seine Worte kamen leise, scharf und schroff. »Auch ich konnte einst eine Vertraute mein nennen«, fuhr der Prinz fort, »die mich anschließend an die Hexe verriet.«
Bei dieser unverhohlenen Anschuldigung zuckte Aeriel in weiter Ferne zusammen. Erin schnaubte verächtlich und überging seine boshafte Schikane.
»Ich bin abgereist, da es eine wichtige Aufgabe zu erledigen galt«, fauchte sie. »Jetzt bin ich zurück, mit einer Kunde von Aeriel.«
Die anderen im Zelt bewegten sich, sie murmelten wild durcheinander. Syllva, die Königin von Isternes, trat einen Schritt vor, als wollte sie etwas sagen, doch ihr Sohn, der Prinz von Avaric, kam ihr zuvor.
»Wahrlich?«, höhnte er. »Dann warst du im Palast der Hexe und bist von dort zurückgekehrt.« In seiner Stimme lag eine solche Kälte, dass Aeriel schauderte.
»Ich war in der Kristallstadt«, erwiderte das dunkelhäutige Mädchen verärgert, jedoch beherrscht. Allein die Gegenwart
des Prinzen versetzte sie in unsägliche Rage. Vor diesem Moment hatte Aeriel nie das Ausmaß ihrer gegenseitigen Abneigung gespürt. » Dorthin ist Aeriel gegangen.«
»Du lügst!« Seine ungestümen Worte überraschten sogar Erin. »Egal, wie man es dreht und wendet, du
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