Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
dünnen Wollbüschel durch die Finger glitten und sich ineinanderdrehten, nach unten gezogen wurden vom Gewicht der Spindel, die sich dann langsam, sehr langsam senkte und mit einem Klicken den Boden berührte und umkippte.
Doch der Ton, den Aeriel diesmal hörte, als sie in ihrem Zimmer im Schloss des Vampirs stand, war nicht das leise Knacken von altem Horn auf gestampftem Lehm, sondern ein hell tönendes Klicken von Gold auf Stein. Als sie nach unten blickte, lag zu ihren Füßen die Spindel und drehte sich träge, und von ihrem Schaft wickelte sich ein grober weißer Faden ab. Schnell, ehe sie ihr Geschick wieder verließ, nahm sie die Spindel vom Boden, wickelte den Faden auf und ließ sie wieder fallen. Auch diesmal entstand ein dicker unförmiger Faden.
Es muss ein Wunder geschehen sein, dachte Aeriel, dass ich überhaupt spinnen kann.
Von nun an nahm Aeriel die Spindel mit zu den Gespensterfrauen, um auch dort zu spinnen. Anfangs war nur Mitleid in ihrem Herzen, und so spann sie einen groben grauen Faden wie jenen, aus dem die Kleidung der armen Kreaturen gewebt war. Und wenn sie nach ein paar Stunden die Gesellschaft der geisterhaften Wesen nicht mehr ertragen konnte, wandelte sich der Faden in wolligen Widerwillen, zwickend und zwackend wie kratzende Nessel. Dann nahm sie Reißaus und stieg hinab in die Höhlen, um im warmen Fluss zu baden oder mit dem Zwerg zu plaudern. Nach einer Weile kehrte sie dann zu den Frauen zurück, nahm erneut die Spindel zur Hand und drehte aus dem Nichts einen dicken Faden grob-grauen Mitleids. So vergingen die Tagmonate.
Doch plötzlich, eines Tages, änderte sich alles. Die Gespensterfrauen waren ihr vertraut geworden. Wenn auch ihre Körper noch dürrer erschienen als anfangs, so zeigte sich doch bei ihrer mitleiderregenden Gedächtnisschwäche eine leichte Besserung,
vor allem dann, wenn Aeriel sich ihnen längere Zeit widmete und ausführliche Gespräche mit ihnen führte. Erinnerungen blitzten auf, die längst vergessen schienen; keine Frau war jedoch in der Lage, die Bruchstücke ihrer eigenen Vergangenheit von denen einer anderen Vergangenheit zu unterscheiden. Und noch immer konnte Aeriel nicht sagen, wer von ihnen Eoduin war. Aber möglicherweise hätte sie dieses Wissen auch nicht ertragen.
Allmählich wurde ihr Verhältnis zu den Gespensterfrauen entspannter und lockerer. Selbst ihr wehleidiges Murmeln und ständiges Gejammer über die Schwere und raue Beschaffenheit ihres gesponnenen Fadens nahm sie gelassen hin. Ihren Widerwillen hatte Aeriel ganz abgelegt, und trotz des drängenden Wunsches der Frauen nach ihrer, Aeriels, Gesellschaft, versuchte sie, die armen Wesen nicht mehr zu bemitleiden. Und eines Tages merkte sie während des Spinnens, wie der Faden, der durch ihre Finger glitt, immer dünner und feiner wurde; und mit einem Mal fühlte er sich weniger rau an, und Aeriel spürte, dass das, was sie da spann, Geduld war, der die Liebe sogleich folgte.
Aus Mitleid war lediglich ein kurzer Faden geworden, aus Widerwillen ein noch weit kürzerer, doch nur aus einem Fünkchen Nächstenliebe entstand ein Faden von solcher Feinheit und Länge, dass Aeriel nicht einmal das Ende greifen konnte. Und während sie das Spinnen von Mitleid und Widerwillen schon nach wenigen Stunden erschöpfte, war das von Liebe und Geduld die leichteste Arbeit, die ihr je von der Hand gegangen war. Schon bald webte sie für die Geisterfrauen leichte Gewänder auf
einem alten Handwebstuhl, den sie in einer Kellerecke gefunden hatte. Auch diese Arbeit fiel ihr leicht und war ohne großen Kraftaufwand zu schaffen.
Einmal, nachdem mehrere Tagmonate verflossen waren, drei oder vier; sie zählte sie nicht mehr, blickte sie aus dem Fenster und sah den Engel der Nacht auf einem Balkon stehen, der hinaus zum Garten ging. Sie unterbrach ihre Arbeit, um ihn eingehender zu betrachten. Seit langem sah sie ihn zum ersten Mal. Der Ikarus stand da und ließ seinen Blick über die Ebene schweifen. Von seinen Schultern hingen die Flügel gleich einem Cape aus schwarzem Samt, das das Licht des Sonnensterns verschlang. Sein kalkweißes Gesicht war völlig regungslos und wie aus Stein gemeißelt; nur seine farblosen Augen irrten ziellos über die öde Landschaft.
Plötzlich wandte er sich um und erblickte sie. Verwirrt trat Aeriel vom Fenster zurück, aber er rief sie an, ohne ihren Namen zu nennen, sie glaubte nicht, ihm ihn jemals gesagt zu haben. Und sie ging zu ihm, denn wenn er ihr direkt in die
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