Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Augen sah, verließ sie jede Kraft. Dann konnte sie ihm nur noch gehorchen. Er wandte sich von ihr ab und starrte wieder über die Ebene. »Irgendjemand hat meine Ungeheuer gefüttert«, sagte er. »Warst du das?«
»Ja, mein Gebieter«, antwortete sie ruhig. »Habe ich dir etwa meine Erlaubnis dazu gegeben?«, fragte er kurz angebunden und starrte noch immer über das Land.
»Nein, mein Gebieter«, sagte sie.
»Warum?«, fragte der Vampir und sah sie immer noch nicht an. »Warum hast du das getan?«
»Sie waren so hungrig, Herr«, entgegnete Aeriel. Diesmal blickte er sie an, und als sie seine kalte Schönheit wieder sah, fühlte sie sich schwach werden.
»Ich wünsche sie mager. So sind sie bessere Wächter.«
Und erst als er sie nicht mehr ansah, fand Aeriel ihre Sprache wieder. »Ihre Augen sind schärfer und ihr Gehör feiner, wenn der Hunger sie nicht ablenkt …«, antwortete sie.
»Willst du etwa mit mir streiten?«, schnitt ihr der Ikarus das Wort ab.
»Nein, mein Gebieter«, entgegnete Aeriel leise.
Der Vampir trommelte mit den Fingern seiner ebenmäßigen weißen Hand auf das Mauerwerk. Sie schimmerten weich, wie Bergkristalle, vor dem dunklen, stumpfen Stein. »Erzähl mir, warum haben sie dich nicht getötet?«
»Ihre Ketten sind nicht lang genug, mich zu erreichen, wenn ich an der Treppe stehe.«
Der Engel der Nacht nickte und blickte sie über die schwarz beflügelte Schulter an. »Wusstest du es, ehe du hingingst?«
Sie schüttelte den Kopf, da sie nicht sprechen konnte, wenn er sie ansah.
»Warum bist du also hinaufgegangen?«, fragte er sie.
»Sie brauchten jemanden, der sie füttert«, stammelte Aeriel, als er seinen Blick von ihr abwandte.
»Sie hätten dich töten können«, sagte der Vampir.
»Ja«, antwortete sie.
»Warum also?«, fragte er, mit echter Neugier in der Stimme. »Warum bist du hinaufgegangen?«
»Weil sie mich brauchten«, sagte Aeriel.
Der Engel der Nacht schüttelte den Kopf und lachte dann. »Ich sollte dich töten«, sagte er schließlich obenhin. »Ich habe dir verboten, allein auf den Turm zu gehen, offenbar ohne Erfolg. Du interessierst mich. Keiner meiner Bediensteten war mutig genug, zu den Ungeheuern zu gehen, geschweige denn, sich meinen Befehlen zu widersetzen.« Er schüttelte den Kopf. »Seltsam. Du siehst gar nicht mutig aus.«
Er warf ihr einen Blick zu, als erwarte er eine Antwort. Aeriel sah weg. »Ich bin nicht mutig, mein Gebieter.«
Er lachte wieder. »Vielleicht nicht. Vielleicht bist du nur dumm. Doch das ist gleich. In Zukunft wirst du regelmäßig meine Ungeheuer füttern, so wie du meine Frauen bedienst.«
Er schwieg, da er eine Antwort erwartete, und Aeriel murmelte: »Du ehrst mich, mein Gebieter.«
»Aber dass sie mir nicht fett werden«, fügte er ernst hinzu. »Sollte ich feststellen, dass sie in ihrer Wachsamkeit nachlassen und träge werden, werfe ich dich ihnen zum Fraß vor. Und das wird für lange Zeit ihre letzte Mahlzeit sein.«
Dann schritt er davon und verschwand im Innern des Schlosses. Aeriel blieb noch lange an die Balustrade gelehnt stehen und wartete, bis ihre Kräfte wiederkehrten.
Die Tagmonate verstrichen, und Aeriel fiel auf, dass der Vampir immer rastloser wurde. Vor sich hinmurmelnd durchschritt er ruhelos das Schloss. »Er wird hungrig«, sagten die Geisterfrauen; ihr Verstand gewann an Schärfe. Jetzt besaßen schon acht von ihnen neue Gewänder. »Ein halbes Jahr ist vergangen«, sagte der Zwerg zu Aeriel, »und in ein paar Monaten wird er sich auf die
Suche nach einer neuen Braut machen.« Oft sah Aeriel den Engel der Nacht auf der Suche nach Beute durch die unteren Verliese streifen.
Manchmal fing er kleine silberne Fledermäuse, die nach Einbruch der Dunkelheit auf der Suche nach Motten und Nachtschwärmern um die Türme flogen. Der Vampir packte sie und brach ihnen die Flügel. Das wusste Aeriel, weil sie die armen Geschöpfe halb verhungert in den Gängen der Burggemächer fand oder hilflos herumflattern sah.
Eines Tages traf sie ihn im Garten. In der hohlen Hand hielt er eines dieser winzigen zappelnden Geschöpfe. Er hatte der Fledermaus nur einen Flügel gebrochen und sie wieder in die Luft geworfen, um sich daran zu ergötzen, wie sie in torkelnden Bewegungen hilflos zu Boden flatterte. Aeriel erkannte die Qual des kleinen Tieres an dem dünnen schrillen Schrei. Ohne zu überlegen, stürzte sie auf ihn los.
»Hör auf!«, schrie sie. »Hör auf!«
Der Vampir beachtete sie nicht. Die
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