Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
gesehen, mein Gebieter?«
»Oh ja. Meine Mutter hielt sich ein Paar als Haustiere.«
Aeriel sah ihn an. »Deine Mutter?« Das Wort klang merkwürdig aus seinem Mund.
Wieder lächelte er. »Ja, ich habe eine Mutter«, sagte er. »Wie sonst wäre ich auf dieser Welt?« Seine Stimme klang amüsiert und war ohne Freundlichkeit. Aeriel senkte den Blick und murmelte Unverständliches. Der Ikarus schürzte die Lippen und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Sie ist sehr schön, meine Mutter.«
Aeriel zögerte einen Moment, ehe sie sprach. »Wie heißt sie?«, fragte sie schließlich.
»Wie soll ich das wissen?«, erwiderte der Vampir beleidigt. »Große Persönlichkeiten wie sie tun nicht jedem ihren Namen kund.«
»Aber du bist doch ihr Sohn«, beharrte Aeriel.
Der Vampir wandte plötzlich den Blick ab und verlor zum ersten Mal seine kalte Überlegenheit. »Sie wird ihn mir sagen …«, begann er. »Sie hat es mir versprochen … wenn ich alt genug bin.«
»Und ist sie … wie du?«, fragte Aeriel und versuchte sich vorzustellen, wie Vampirmütter wohl waren. Sein Zögern hatte sie überrascht.
»Du meinst, wie ich ein geflügeltes Wesen?«, entgegnete er und faltete seine kohlschwarzen Flügel. Sie raschelten wie steife Seide. »Nein, sie lebt lieber im Wasser. Sie ist eine Nixe.«
»Und sie hält sich Drachen?«
»Ja.« Der Engel der Nacht ordnete seine Schwingen und schwieg so lange. Als er endlich wieder sprach, war die momentane Unsicherheit aus seiner Stimme verschwunden. »Aber ihre Drachen fressen keine Jungfrauen. Sie verschlingen ganze Schiffe. « Er lachte wieder dieses grausame, kalte Lachen. »Ach, war das eine dumme Geschichte. Aber amüsant war sie trotzdem. Erzähl mir noch eine.«
Der Ton seiner Stimme war schneidend geworden. »Mein Gebieter«, stammelte Aeriel, »ich bin hungrig und müde. Ich habe viele Stunden gesponnen und gewebt für …
Für deine Frauen«, Aeriel musste sich zusammenreißen, um nicht »für deine Gespenster« zu sagen, »und ich …«
Er hob die Hand und zeigte sich plötzlich wieder nachsichtig.
»Ach ja. Ich vergesse manchmal ganz, dass ihr sterblichen Geschöpfe übermäßige Mengen Nahrung und viele Stunden Schlaf braucht. Ich brauche von beidem nur sehr wenig.« Er entließ sie mit einem Kopfnicken. »Schön, dann geh. Iss und schlaf. Dann komm in den Thronsaal und erzähl mir noch eine Geschichte.«
5
Prinz Irrylath
U nd so erzählte Aeriel dem Engel der Nacht Geschichten, fütterte seine Ungeheuer, spann und webte für seine Frauen und fischte mit dem Zwerg in den stillen Höhlenteichen, und die Tagmonate vergingen. Sie erzählte ihm alle Geschichten, die ihr einfielen und die sie je von Bomba, Eoduin oder jemand anders gehört hatte. Der Vampir schien stets nur mit halbem Ohr zuzuhören, wobei er hin und wieder etwas bemängelte, das ihm allzu unwahrscheinlich erschien, aber er hörte zu, und Aeriel fand keine zerschmetterten Fledermäuse oder verstümmelten Eidechsen mehr im Garten.
Doch allmählich gingen ihr die Geschichten aus (gerade als sie am letzten Gewand für eine Geisterfrau arbeitete), und so bat sie den Zwerg um neue, und er erzählte ihr die Geschichte aus seiner Jugendzeit, die er in den Höhlen von Aiderlan vor mehr als zwölftausend Tagmonaten erlebt hatte. Und Aeriel wiederum erzählte sie dem Vampir in dem öden Thronsaal, und er lauschte diesen neuen Geschichten mit scheinbar derselben Gleichgültigkeit wie vorher.
Dann kam der Tag, als sie ihm die Geschichte eines Königssohnes
erzählte, der in einem Palast lebte, den man den »Turm der Könige« nannte. Es war eine Geschichte, die sie von Dirna gehört hatte, denn die Alte stammte aus einem Volk, das im Flachland lebte, ehe man sie als Sklavin in Aeriels Dorf brachte. Damals hatte Dirna ihr das feine gelbfarbene Haar gekämmt und dabei erzählt. Heute nun war es später Nachmittag und fast schon dunkel im Schloss des Vampirs. Das weiße Sonnenlicht ergoss sich wie Wasser über den dunklen Kachelboden. Aeriel saß in den wärmenden Strahlen, während der Ikarus am Fenster stand und eine Blume zerpflückte.
Aeriel sagte: »Dies ist eine Geschichte, die mir Dirna einst erzählt hat, und es ist die letzte Geschichte, die ich kenne. Sie erzählte sie mir, als wir alleine waren, um mir Angst einzujagen, und ich weiß nicht, ob sie wahr ist. Sie geht so: Es war einmal eine Frau, die diente als Hausmagd bei einem großen König des Flachlandes. Und diese Frau, Dirna, hatte ein Kind im
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