Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
verwirrt, dass der Zwerg laut lachen musste. Es war ein überraschend herzliches und tiefes Lachen, das man einem solch kleinen Mann gar nicht zutraute.
»Ich sehe schon, dass du mit den besonderen Eigenschaften dieser goldenen Spindel nicht vertraut bist«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Die Spindel spinnt aus dem Herzen, mein Kind, Freude, Trauer, Angst und Hass. Was immer du in deinem Herzen fühlst, wird diese Spindel spinnen. Die andere, deine Vorgängerin, spann Mitleid und Jammer, das war alles, was sie in Gesellschaft dieser grässlichen Gespensterfrauen zustande brachte. Ich kann es ihr nicht einmal übelnehmen. Doch solche Kleider zerfallen in kurzer Zeit zu Lumpen und sind für die Geisterfrauen zum Tragen zu schwer. Nein, ich glaube, du musst etwas anderes auf dieser Spindel spinnen, meine Tochter.« Er deutete die Stufen hinauf. »Geh jetzt, Aeriel. Die Tür zum Schloss ist nur ein paar Schritte weiter oben.«
»Was aber soll ich spinnen, wenn nicht Mitleid und Jammer? «, fragte Aeriel verwundert. »Was anderes kann man für
diese armen Kreaturen empfinden?« Und fast zu sich selbst fuhr sie fort: »Und wie soll ich aus einem Gefühl, aus einer Empfindung meines Herzens einen Faden spinnen?«
Doch der Zwerg hatte sich schon umgedreht und ging langsam die Stufen hinab. »Oh, das weiß ich auch nicht, mein Kind«, rief er über die Schulter zurück. »Wir Zwerge sind Bergleute und Gelehrte, keine Spinner. Du musst lernen, die Spindel auf deine Weise und in deinem Sinne zu gebrauchen. Du allein musst wissen, was du mit ihr spinnen willst.«
Und mit diesen Worten ließ er sie allein, verwirrt und mit einer goldenen Spindel in der Hand, bis ihr schließlich bewusst wurde, dass sie so schnell wie möglich die Tür zum Schloss erreichen musste, solange die Fackel des Zwerges noch Licht spendete.
4
Die goldene Spindel
D en Gebrauch der Spindel zu erlernen erwies sich als zeitraubend und schwierig. Aeriel hatte ein kleines kahles Zimmer im Bedienstetentrakt gefunden und saß nun stundenlang mit der goldenen Spindel da. Sie konzentrierte sich auf die kurzen spulartigen Bewegungen mit nicht existenten Fasern, sicherte die Spindel durch eine Fingerschlaufe, gab ihr dann einen Stoß, damit sie sich drehte und zu spinnen begann, und ließ sie fallen, wie sie es von zu Hause mit ihrer Widderhornspindel gewohnt war. Doch das alles nützte nichts. Statt einen Faden zu zwirbeln, an dem sich die kleine goldene Spindel herabhängend drehte, fiel sie immer mit einem Klirren zu Boden und drehte sich dort auf der Spitze weiter, bis sie schließlich umkippte. Was Aeriel auch anstellte, ihr gelang es nicht, das Geheimnis der Spindel zu lüften.
Die Gespensterfrauen waren natürlich keine Hilfe. Wie versprochen, stattete Aeriel ihnen des Öfteren Besuche ab, aber sie waren so ausgezehrt und schwach und beklagten sich derart bitter über das Gewicht ihrer groben eintönigen Kleidung, dass Aeriel sie nie länger als eine Stunde ertragen konnte.
Auch die Ungeheuer besuchte sie, war aber vorsichtig genug, ihnen nicht zu nahe zu kommen, um nicht gekratzt oder gebissen zu werden. Sie brachte ihnen Fische und Pilze, die sie in den Höhlen gefangen und gesammelt hatte. Die armen Kreaturen sahen derart verhungert aus, und ihre Augen waren so voller Schmerz, dass Aeriel Mitleid mit ihnen hatte. Mit jedem neuen Besuch schienen die Ungeheuer ihre Ankunft ungeduldiger zu erwarten; sie jaulten und japsten, wenn sie ihre Schritte auf der Treppe hörten. Während immer mehr Tagmonate verstrichen, nahmen sie allmählich an Gewicht zu und sahen nicht mehr so knochig aus. Ja, sie legten sogar ihr wildes Verhalten ab und unterließen das schreckliche Heulen und Kreischen.
Und eines Tages entdeckte Aeriel plötzlich das Geheimnis der Spindel. Sie hatte sich damit geplagt und abgerackert, Stunde um Stunde versucht, sie zum Spinnen eines Fadens zu bewegen, doch bisher waren alle Versuche gescheitert. Und allmählich während sie die Bewegung mechanisch wiederholte, verfiel sie in eine Art Tagtraum, erinnerte sich an ihre erste Spinnstunde im Alter von vier Jahren, an die Spinnstube mit den anderen Frauen, die vor sich hindösend, aber gelöst weiße Wolle spannen.
Bomba hatte ihr die Widderhornspindel in die Hand gedrückt und gezeigt, wie zuerst die Wolle gezogen und gezwirbelt werden musste. Wie man den Faden am Ende wickelte und an der oberen Kerbe sicherte, die Spindel fallen und sich drehen ließ, während die
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