Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
ungemeine Konzentration, und Irrylaths Treuebruch hatte ihr offenkundig stark zugesetzt.
»Verräter!«, murmelte die Hexe verbittert. »Niemals hätte ich geglaubt, dass er mich wahrhaftig verlässt.«
Lenk sie ab! , ermahnte sich Aeriel. Wenn sie wollte, konnte Oriencor ihre verstreuten Gefolgsleute im Bruchteil einer Sekunde zur Ordnung rufen. Verzweifelt suchte Aeriel in ihrem Gedächtnis nach irgendetwas, um die Aufmerksamkeit der anderen vom Kampfgeschehen unter ihnen abzulenken.
»Ja, mein Gemahl hat dich verlassen«, sagte sie und verlieh ihrer Stimme einen Hauch von Schärfe und Zuversicht, die sie nicht verspürte. »So wie die Gottgleichen von Oceanus dich einst verließen … Und so wie Melkior.«
Mit einem Zischen drehte sich die Weiße Hexe vom Fenster weg, ihre grünen Augen loderten. »Was weißt du schon von Melkior, du kleine Närrin?«
Aeriels Mut sank unter dem wilden Funkeln von Oriencors Blick, doch sie zwang sich, nicht zurückzuweichen. »Dass er ein Halbling ist, wie du«, fauchte sie und benutzte gezielt das eine Wort, das Oriencor tief im Herzen traf. »Dass er einst dein Freund war und sich dann von dir abwandte. Zuletzt diente er deiner Mutter.«
»Meine Mutter ist tot«, fauchte die Weiße Hexe, »und Melkior
nichts weiter als ihr Spielzeuggolam. Kabel und Drähte! Er ist nicht von Bedeutung.«
Wutentbrannt wollte sie sich wieder dem Gefecht zuwenden. Aeriel unterdrückte einen Protestschrei, der sie gewiss verraten hätte.
»Die Gottgleichen haben dich ebenfalls verlassen«, sagte Aeriel schnell. »Sie weigerten sich, dich bei ihrer Abreise mitzunehmen. « Der Blick der Hexe huschte zurück zu Aeriel, die sich verzweifelt mühte, den Anschein von Gelassenheit zu wahren. Mit keiner Miene durfte sie offenbaren, was sie durchs Fenster sah. »Deshalb hasst du die Welt so. Mit dem Verschwinden der Gottgleichen machten sie dich zu einer Gefangenen.«
Oriencor funkelte Aeriel böse an. »Es war allein das Werk meiner Mutter, dass sie mich hier zurückließen …«, setzte sie an und verstummte dann plötzlich. Verächtlich verzog die Halb-Alte die Lippen zu einem Lächeln. »Doch ich hasse die Welt nicht, kleine Zauberin, auch wenn meine Mutter das womöglich vermutet hat. Es interessiert mich nicht im Geringsten, was der Welt widerfährt, sobald ich fort bin.«
Am Himmel fiel ein weiterer Engel der Nacht.
»Du hast allerdings Recht, was die Alten anbetrifft«, fuhr Oriencor gleichmütig fort. »Sie haben mir das Herz gebrochen, indem sie mich im Stich ließen. Schon bald werden sie mich jedoch mit offenen Armen willkommen heißen müssen, denn ich habe mich ihnen als würdig erwiesen. Habe ich nicht all die tausend Jahre hart gearbeitet, um mich ihnen nun anschließen zu dürfen?«
Stirnrunzelnd schüttelte Aeriel den Kopf. Sie verstand nicht,
was die andere sagen wollte. Die Weiße Hexe schnaubte verächtlich. Ihre Aufmerksamkeit war nun vollends vom Fenster abgelenkt. Hastig ließ Aeriel ihre Gesichtszüge zu einer ausdruckslosen Maske erstarren, damit ihr Entzücken keinesfalls durchschimmerte. Wenn sie es nur schaffte, Oriencor ein Weilchen länger abzulenken, hätten ihre Verbündeten wahrlich Aussicht auf Erfolg.
»Die Gottgleichen werden natürlich niemals hierher zurückkehren«, sagte die Hexe. Ihre Stimme nahm einen leidenschaftlichen Ton an. »Wollte ich also wieder in den Genuss ihrer Gesellschaft kommen, liegt es allein an mir. Verstehst du das nicht? Ich beabsichtige, mich meinen Gefährten auf Oceanus anzuschließen und mein Geburtsrecht dort zu beanspruchen. Deshalb habe ich den Planeten in den vergangenen tausend Jahren geplündert. «
Aeriel starrte sie an, ratloser denn je zuvor. Aber sie sind tot, dachte sie. Oriencor sprach, als stünde Oceanus noch immer in voller Blüte und sei nicht von Seuchen und Gräueltaten verwüstet. Unversehens lächelte Ravennas Tochter ihr kühles, grausames Lachen.
»Wie ich sehe, hat dir meine Mutter nichts davon erzählt. Demnach hat nicht einmal sie meine Pläne geahnt.« Die Weiße Hexe lachte. »Gut.«
»Sie sagte, du zerstörtest die Welt aus Rache …«, begann Aeriel.
Oriencor nickte kurz. »Oh, das stimmt. Zumindest teilweise. Anfangs, vor vielen Jahren, wünschte ich mir lediglich, das Lebenswerk meiner Mutter zu vernichten, sie und ihre Anhänger
zu zwingen, diese Welt zu verlassen. Ich hoffte, sie würden neue Wagen errichten und mich mit sich nehmen, wenn sie nach Hause zurückkehrten.«
Abwesend strich sie
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