Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Haaren gepackt und in die Tiefe gezogen. Am Ende sank sie ohnmächtig der Königin zu Füßen und rührte sich nicht mehr.
Ob die Königin die eine oder die andere Version glaubte, weiß ich nicht, sicher aber glaubten die meisten die Geschichte mit der Wasserhexe. Viele behaupteten, die Wasserhexe habe nur ihren Tribut verlangt und werde sie jetzt ziehen lassen. Eiligst wurde das Lager abgebrochen und die Kamele beladen. Aber die Königin merkte nichts von den Reisevorbereitungen, denn sie war zum Seeufer gegangen, um dort allein um ihren Sohn zu trauern.
Als sie zurückkehrte und die Karawane zum Abmarsch bereit sah, sagte sie: ›Wir wollen aufbrechen; dies ist ein Ort des Bösen. ‹
Und diesmal fanden sie sogleich den Weg aus dem Schluchtengewirr zurück in die Wüste. Schon bald stießen sie auf die langersehnte Wasserstelle und erreichten schließlich die Heimat. Groß war der Schmerz des Königs, als er vom Tod seines Sohnes erfuhr. Die Wallfahrt erwies sich als nutzlos, denn die Königin blieb kinderlos. Schließlich sah sich der König gezwungen, sie zu verstoßen, und so kehrte sie durch das Sandmeer zurück nach Esternesse.
Der König heiratete noch zweimal, jedes Mal junge Prinzessinnen aus benachbarten Königreichen, doch beide starben jung,
ebenfalls kinderlos. Eine Seuche suchte das Land heim und vernichtete das Vieh und die Ernte. Und das Volk munkelte, das Haus des Königs sei verflucht, und verließ das Land. Der König alterte vorzeitig und starb ohne Erben in dem Jahr, als die Pest wütete und jene dahinraffte, die noch bei ihm geblieben waren. Wer übrig blieb, floh. Es gab niemand mehr, der den Thron besteigen konnte, und niemand, der regiert werden musste. Die Dienerschaft stahl alle Schätze aus dem Palast und machte sich auf und davon. Die Palastwache trieb die Übrigen zusammen und verkaufte sie auf dem Sklavenmarkt. Dirna war eine von ihnen. Sie erblindete langsam. Seit sie das eiskalte Wasser des dunklen Sees getrunken hatte, war ihr Augenlicht ständig schwächer geworden. Ein weißer Film überzog ihre Augäpfel, und sie konnte kaum noch etwas sehen.
Sie wurde an den Statthalter der Terrain-Berge verkauft, der sie mit anderen Frauen, die gleichfalls spinnen und weben konnten, seiner Halbschwester zum Geschenk machte, als diese den Ältesten meines Dorfes heiratete. Dirna hat mir diese Geschichte erzählt. Vielleicht wollte sie mir nur Angst einjagen. Ob sie der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht.«
Aeriel verstummte. Sie saß in der Sonne auf dem dunklen Steinfußboden und wartete auf ein Wort des Ikarus, aber er schwieg. Sie blickte auf und sah, wie er mit einem Stirnrunzeln, das die überirdische Schönheit seines Gesichts noch unterstrich, vor sich hin starrte.
»Hat dir die Geschichte nicht gefallen, mein Gebieter?«, fragte sie schließlich.
Sein Blick blieb leer, aber seine Stirn runzelte sich mehr. »Wann hat das alles stattgefunden?«, fragte er. Seine Stimme klang seltsam angespannt.
»Vor vielen Jahren«, erwiderte Aeriel. »Noch ehe ich geboren wurde.«
»Und wo liegt dieses Königreich, das jener Herrscher regierte?«
»Weit weg von meinem kleinen Dorf. Jenseits der weißen Ebene von Avaric.«
»In welcher Himmelsrichtung?«, fragte der Engel der Nacht mit derart gepresster Stimme, dass Aeriel sich wunderte.
»Im Westen«, antwortete sie. »Im Nordwesten, glaube ich.«
Der Vampir begann plötzlich voller Unruhe vor dem Fenster auf und ab zu schreiten. Sein Schatten glitt immer wieder über Aeriels Körper, da sie im Licht des untergehenden Sonnensterns saß.
»Wie war sein Name, der Name dieses Königs?«, fragte der Ikarus, ohne sie anzusehen. Die eine Hand hatte er zur Faust geballt, und die andere knetete sein Handgelenk, so als versuchte er vergeblich, eine imaginäre Fessel abzustreifen.
Aeriel zögerte. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Dann ist dir vielleicht die ganze Geschichte auch nicht mehr so recht in Erinnerung?«, fuhr der Engel der Nacht sie an.
»Verzeih mir, mein Gebieter«, erwiderte Aeriel. »Ich erzählte dir die Geschichte, so gut ich konnte.«
»Die Königin!«, schrie der Vampir. »Wie war der Name der Königin?«
Aeriel musste lange nachdenken. »Syllva«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, sie hieß Syllva.«
»Nein«, sagte der Ikarus. Seine Stimme klang plötzlich hart und laut. »Du kannst dich nicht sehr gut erinnern. Sie hieß … irgendwie anders, aber Syllva auf keinen Fall.«
Aeriel schwieg. Die Stimme des
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