Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Sie hielt sich die Ohren zu.
Sie lag auf der Seite, dicht am Boden, und konnte seine knirschenden Schritte im Sand hören. Sie wusste, dass er am gegenüberliegenden Flussufer auf und ab schritt und nach ihr suchte. Er rief wieder, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte.
Sie hörte ein leises Plätschern, als ob er mit einem Fuß ins Wasser gerutscht wäre. Im selben Moment hörte sie ihn schreien, so als hätte er sich im Wasser verbrannt. Eine ganze Weile blieben die Schritte aus, dann entfernten sie sich. Sie klangen unregelmäßig: Er humpelte.
Aeriel nahm die Hände von den Ohren und setzte sich auf. Sie sah sich um: Der leere Raum war unverändert. Alles war ruhig. Sie wartete, und schließlich kehrte der Zwerg mit einem Klumpen Bienenwachs in der einen und einem großen verstaubten Buch in der anderen Hand zurück. Er setzte sich ans Feuer und legte das Buch neben sich. Aeriel starrte es neugierig an, stellte jedoch keine Fragen. Er hielt das Bienenwachs über das Feuer, um es geschmeidig zu machen, und Aeriel beobachtete, wie er es mit den Händen knetete. Die graue Masse war zäh, transparent und roch süß-sauer. Nur langsam wurde sie geschmeidiger.
In diesem Augenblick ertönte der Ruf des Vampirs so nah und so deutlich, dass Aeriel aufsprang. Er musste sich am diesseitigen Ufer des Flusses befinden.
»Er ist zurückgekehrt«, sagte sie bebend. So schnell hatte sie nicht mit ihm gerechnet.
Talb nickte. »Er hat Angst, zu tief in die Höhlen einzudringen. «
Aeriel blickte ihn überrascht an. »Angst? Aber er ist doch so stark und selbstsicher. Ich glaubte, er fürchtet sich vor nichts.«
Der Zwerg schüttelte den Kopf und knetete das Wachs. »Oh, er ist ein großer Feigling. Er fürchtet sich vor der Dunkelheit der Nacht und seinen eigenen Träumen. Er kommt nur ab und zu hier herunter und sucht nach …«
»Angst vor der Dunkelheit?«, fragte Aeriel. »Aber …«
Der Zwerg lachte. »Ja, ja. Ich weiß. Er ist ein Geschöpf der Finsternis, aber die Hexe lehrte ihn nicht, die Dunkelheit zu lieben. Doch wenn sie ihn von seinen Träumen befreit, wird er auch diese Angst verlieren. Dann wird er sich vor dem Licht fürchten.«
»Die Hexe?«, fragte Aeriel. »Sprichst du von der Wasserhexe, seiner Mutter?«
Der Zwerg sagte eine Minute nichts. Aeriel blickte ihn neugierig an. »Sie ist nicht seine Mutter«, entgegnete er schließlich.
»Was willst du damit sagen?«
»Wasserhexen sind unfruchtbar, genau wie ihre ›Söhne‹, die geflügelten Wesen. Es ist ein erbärmliches Dasein, kein Leben kommt aus ihnen. Kinder, die sie ihr Eigen nennen, müssen sie jung stehlen …«
Da ertönte wieder der Ruf des Vampirs. Diesmal ganz in der Nähe des Ufers, vielleicht war er auch schon in der Nachbarhöhle. Aeriel konnte nun jedes Wort verstehen.
»Wo bist du?«, rief er, und ein dumpfes Echo wiederholte die Worte. »Antworte mir!«
Der Klang seiner Stimme war grässlich: zornig und gereizt. Aeriel erschauderte und versuchte, nicht hinzuhören. Sie sah dem Zwerg zu, starrte ins Feuer und musterte aufmerksam den großen leeren Raum – alles, was sie ablenkte. Da wurde seine Stimme plötzlich weich, fast lieblich. »Komm heraus«, rief er, »und ich verspreche dir, nicht böse zu sein. Du hast mich nicht wirklich verärgert, aber ich möchte mit dir sprechen. Willst du nicht herauskommen?«
Seine Worte klangen ernst und aufrichtig. Fast hätte Aeriel ihnen geglaubt.
»Du weißt, wie sehr ich dich mag«, fuhr der Vampir fort. »Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten. Komm raus.«
Aeriel war aufgestanden, ohne es zu merken. Sie hatte ihm immer gehorcht. Auch jetzt war dieser Drang übermächtig in ihr.
»Ich werde dir nichts tun«, sagte der Ikarus.
»Er lügt«, widersprach der Zwerg. »Er wird dich töten.«
»Hör mir zu«, rief der Engel der Nacht. »Du solltest nicht hier unten in diesem Höhlenlabyrinth bleiben; du wirst dich verirren. Komm jetzt raus, sonst werde ich zornig.«
Der Zwerg hielt sie mit seinen Blicken zurück. Aber Aeriel senkte die Lider und ging auf die Tür zu.
»Ich will nur eins von dir«, rief der Ikarus. »Du musst mir versprechen, mir keine dieser Geschichten mehr zu erzählen. Dann können wir wieder Freunde sein, einverstanden? Warum antwortest du mir nicht?«
Der Zwerg stand auf. Aeriel bewegte sich weiter auf die Tür zu. »Meine Tochter«, sagte er. »Geh nicht zu ihm.«
»Ich kann nicht anders«, sagte Aeriel leise weinend. »Ich weiß, dass er lügt,
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