Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
überrascht an. »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir helfen werde«, flüsterte sie leise, aber der Zwerg schien ihre Worte nicht zu hören. Sie starrte auf ihre Knie, den Sand, das Wasser, das gegenüberliegende Ufer. Sie war unschlüssig und spürte, dass das nicht richtig war. Sie hätte von ganzem Herzen
den Tod des Vampirs wünschen müssen. »Ich muss darüber nachdenken«, sagte sie zu dem Zwerg.
Ihr Gefährte nickte, drehte den Fisch und schuppte die andere Seite. »Dann denk darüber nach, meine Tochter«, sagte er freundlich. »Lass dir Zeit. Aber lern auch den Vers auswendig. Es ist gut, wenn man ihn kennt. Er lautet folgendermaßen:
Durch Avarics flache Länder, darüber der dunkle Engel fliegt
Hinan auf Terrains Gipfelränder, vom Königsturm, der abseits liegt,
Und zweimal sieben Mägdelein, als Bräute holt er sie herbei –
Ein langer Weg aus trautem Heim; vom Himmel tönt ein ferner Schrei:
Dann wird der Zauberhuf des Sternenpferds ihn unvermutet heiligsprechen,
Und eine Diamantenklinge seine kalte Brust durchstechen.
Allein dann erheben sich des Krieges Held und Schimmel,
Die Kampfgenossen alle, und beben wird der Himmel …
Hast du’s dir gemerkt?«, fragte der Zwerg. Er hatte soeben den ersten Fisch fertig geputzt, schob ihn in seinen Ärmel und begann mit dem zweiten. »Das sind nur die ersten vier Zweizeiler. Aber sie genügen für den Anfang. Kannst du sie aufsagen?«
Aeriel machte einen ungeschickten Versuch und unterdrückte ein Gähnen. Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte. Der Zwerg korrigierte sie freundlich, rezitierte die Verse noch einmal und ließ sie sie dann nachsprechen. Er ließ den zweiten Fisch in seinen Ärmel gleiten, als Aeriel die Verse noch
einmal aufsagte. Und alle zwölf Höhlenfische waren in den Taschen seines Rockes verschwunden, ehe Aeriel die Verse dreimal hintereinander fehlerfrei rezitiert hatte.
»Nun geh«, sagte der kleine Mann, »und ruh dich aus. Du machst nicht den Eindruck, als hättest du in letzter Zeit viel Schlaf gehabt.«
Aeriel stand auf. Ihre Glieder waren schwer, und die Augen wollten ihr immer wieder zufallen.
»Sag mir noch eins«, bat der Zwerg, ehe sie den Fluss durchwatete, »hast du ihn verstanden? Den Reim, meine ich.«
Aeriel schüttelte verschlafen den Kopf. »Was bedeuten die Worte ›unvermutet heiligsprechen‹?«, fragte sie.
Talb wickelte das Rosshaar um die Angelrute und erwiderte: »Es bedeutet ›begrüßen‹, ›herausfordern‹ oder ›verfolgen‹.«
Aeriel runzelte die Stirn. »Ich dachte immer, es bedeutet ›vergeben‹ oder ›segnen‹.«
Der Zwerg zuckte die Schultern, und um seine Lippen spielte ein Lächeln. »Worte können Verschiedenes bedeuten, Aeriel. Vielleicht verstehe ich das Rätsel nicht.« Er reichte ihr ein brennendes Scheit vom Feuer. »Geh jetzt und ruh dich aus. Der Schlaf wird dein Erinnerungsvermögen stärken, und wenn du wiederkommst, machen wir uns ans Enträtseln.«
Aeriel nickte und lächelte schläfrig. Sie drehte sich um und hielt das brennende Scheit hoch über den Kopf, als sie zurück durchs Wasser watete.
7
Die Träume des Engels der Nacht
A eriel erwachte im Dunkel der Nacht von einem ungewohnten Geräusch. Es war weder das Wehklagen der Geisterfrauen noch das Geschrei der Ungeheuer, obgleich sie auch bald mit aller Kraft in den Lärm einstimmten. Es klang mehr wie ein Rufen, wie schmerzvolle Schreie, und dann herrschte wieder Stille, oder vielmehr schwieg die schreiende Stimme, denn die Geisterfrauen klagten und seufzten immer noch, und die Ungeheuer schrien wie seit vielen Tagmonaten nicht mehr.
Aeriel erhob sich von ihrem Lager und huschte in die Große Halle, dann die vielen Stufen hinab in die Höhlen unter dem Schloss. Beim Hinabsteigen begannen die Schreie aufs Neue, und diesmal klangen sie näher. Unten sah sie den Zwerg, der mit einer Fackel in der Hand am Ufer entlangging.
»Was ist das?«, rief sie und sprang von der letzten Stufe auf das sandige Ufer.
Talb kam näher. »Es ist der Vampir, Aeriel«, sagte er.
»Was ist mit ihm los?«, fragte sie. »Hat er Schmerzen?«
»Er erleidet große Ängste, hat aber keine Schmerzen«, entgegnete der Zwerg. »Deine Geschichten haben ihm böse Träume gebracht.«
»Träume?«, rief Aeriel fragend. »Aber er schläft doch gar nicht …«
»Wie wahr«, sagte der Zwerg. »Er schläft nur einmal im Jahr, und zwar in seiner Hochzeitsnacht; die aber ist traumlos, dann sinkt er in einen totengleichen,
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