Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
bin nicht mutig«, erwiderte sie.
»Dann gib dich deiner Trübsal hin.«
Sie war nicht sicher, ob in seiner Stimme eine Spur Belustigung mitgeschwungen hatte.
Dann überließ sie der Sonnenlöwe ihren Gedanken und schloss die Augen, um zu ruhen. Aeriel ließ ihren Tränen freien Lauf, bis sie alle versiegt waren. Dann rieb sie sich das heiße Gold mit trockenem Sand von der Hand und griff nach ihrem Wanderstab. Der Pendarlon schlug die Augen auf. Sie schlang die Arme um seinen zotteligen Nacken und vergrub ihren Kopf in seiner lohfarbenen Mähne.
»Wenn ich gehen muss, dann gehe ich«, flüsterte sie. »Ich bin dir hier keine Hilfe.« Sie versuchte, ruhig zu atmen, denn sie hatte weder die Kraft noch Tränen, um wieder zu weinen. »Lebewohl. Du hast mir sehr geholfen.«
»Lebewohl, meine Tochter«, sagte der Löwe. »Kennst du den Weg?«
»Nach Süden«, antwortete sie. »Immer nach Süden, bis zum Rand der Wüste und dann durch die Steppe. Pendarlon, werde ich dich jemals wiedersehen?«
»Vielleicht«, sagte die große Katze. »Es hängt vom Zufall, den Göttern und deiner eigenen Geschicklichkeit ab. Nun geh, mein Kind, und der Segen der Sterne sei mit dir!«
Aeriel drückte ihn einen Augenblick ganz fest, stand dann auf und wandte sich ab. Sie ging den Hang hinauf, auf den Dünenkamm zu. Der Sand gab unter ihren Füßen nach. Die Sonne links von ihr stand schon im letzten Drittel über dem Horizont. Mit Glück konnte sie in der Abenddämmerung die Steppe erreichen. Ihr Schatten lag langgestreckt über dem Dünenhang zur ihrer Rechten.
Sie erreichte den Kamm und blickte zurück. Der Pendarlon lag neben der toten Schakalin, mit geschlossenen Augen, aber er atmete gleichmäßig. Das Licht des Sonnensterns badete ihn und seine Wunden. Aeriel wäre gerne geblieben, um über ihn zu wachen. Aber sie riss sich von seinem Anblick los, wandte das Gesicht nach Süden und begann, gegen den Wind die Düne hinabzusteigen.
11
Rückkehr
A eriel marschierte. Schnell und zielstrebig stapfte sie über den rauen, krustigen Sand. Ihr Wanderstab gab bei jedem Schritt einen leise knirschenden Ton von sich, wenn sie seine scharfe Spitze in den körnigen Boden stieß. Sie lief, bis die Sonne am Himmel vier Grad tiefer gesunken war, und als sie kein Bein mehr vor das andere setzen konnte, ließ sie die Knie einknicken und fiel einfach mit dem Gesicht vornüber in die Senke zwischen zwei Dünen.
Sofort überkam sie der Schlaf, und sie träumte vom Engel der Nacht, wie er zwischen den Zähnen die Knochen von Fledermausflügeln knackte und zu ihr sagte: »Dich zu quälen macht mir noch mehr Spaß.« Aeriel spürte einen stechenden Schmerz von der Narbe am Hals, und sie bewegte sich im Schlaf. Im Traum hörte sie die Stimme des Zwerges rufen: »Eile, meine Tochter, und finde den Avarclon.« Und sie protestierte: »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir helfen will.« Hohläugig tanzten die Geisterfrauen vor ihr hin und her und wehklagten: »Aeriel, Aeriel will uns nicht helfen!«Sie hörte sich rufen: »Eoduin! Wer von euch
ist Eoduin?« Dann vernahm sie das Geheul und Kettengerassel der Ungeheuer, während Orroto-to ihr beruhigend versicherte: »Ganz ruhig, meine kleine Blasse. Jeder ist frei.« Und der Pendarlon flüsterte: »Ich kann dich nicht länger auf meinem Rücken tragen. Du musst alleine weitergehen.«
Aeriel erwachte mit einem Schrei und merkte, dass sie allein in der Wüste lag. Der Sonnenstern stand kaum noch fünf Grad vom Horizont entfernt. Der langsam wandernde Rand einer Sanddüne hatte sich sanft über ihre Füße und Beine geschoben. Sie setzte sich auf und klopfte hastig den Sand aus der Kleidung. Erst jetzt merkte sie, dass sie zitterte. Sie fror bis auf die Knochen, ihre Muskeln schmerzten. Sie rieb sich die steifen Glieder und fragte sich, ob der Vampir sie sofort töten würde. Dann aß sie ein wenig von den Vorräten aus ihrem Beutel, obwohl sie keinen Appetit hatte, kam stolpernd auf die Füße und machte sich wieder auf den Weg. Erst viele Stunden später, zu spät, um umzukehren, merkte sie, dass sie ihren Wanderstock vergessen hatte.
Sie erreichte das Grenzland, gerade als der Sonnenstern den östlichen Horizont berührte. Sie blieb auf der letzten Sanddüne stehen und ruhte sich eine Weile aus. Unten, vor ihr, lag das öde Grenzland mit seiner lockeren grauen Erde und dem niedrigen Buschwerk. Die Sonne stand links von ihr und war schon halb hinter den Bergen im Osten versunken, als sie sich wieder
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