Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Gesichtsfarbe schimmerte weiß wie Asche, die bleierne Kette hing noch immer um seinen Hals. Aber er war nicht mehr schön anzusehen: Über eine Wange liefen die vier blutleeren Kratzer des Pendarlon. Sie waren während der langen Zeit nicht verheilt. Die linke Schulter seines Gewandes hing in Fetzen herunter, und darunter konnte sie die weißen klaffenden Wunden in seinem blutleeren Fleisch sehen.
Er beachtete ihre Worte nicht, und sie verstand, dass seine Geste nichts Bedrohliches hatte. »Du bist groß geworden, Mädchen, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe.« Seine Stimme klang ruhiger, fast neugierig. »Du bist nicht mehr so mager.
Man könnte unter diesen Lumpen eine richtige Frau vermuten.« Die Kälte seiner Hände ließ ihre Schultern gefühllos werden. »Und die Sonne«, sagte der Vampir nachdenklich, »hat dein Haar und deine Haut gebleicht. Anscheinend bekommt dir das Wüstenklima.«
Er fuhr ihr mit den Händen die Schultern hinauf, und Aeriel fühlte, wie sie erbleichte. Jetzt würde er sie sicher erwürgen, doch er nahm ihr Gesicht in die Hände. Ihre Wangen schmerzten vor Kälte.
»Ich wusste gar nicht, dass du so schöne Augen hast«, sagte der Vampir. »Sie sind smaragdgrün, eine seltene Farbe.« Früher einmal hat er sie feigengrün genannt, dachte Aeriel. Der Engel der Nacht lächelte, ein kaltes, amüsiertes Lächeln. »Fast glaube ich, dass du jetzt schöner bist als meine letzte Frau. Sie war ein hübsches Ding und hatte Haar wie schwarze Seide.« Aeriel schloss die Augen beim Gedanken an Eoduin. »Du warst bei ihr, als ich sie raubte«, fuhr der Vampir fort. »Ach wie hässlich ich dich damals fand!«
Aeriel öffnete die Augen und erschauderte beim Anblick seines entstellten Gesichts. Die Risse in seiner Wange klafften auf und schlossen sich wieder bei jedem Wort.
Der Vampir fühlte sich unter ihrem Blick unwohl und wurde sichtlich nervös. »Was starrst du mich an?«, murmelte er.
Aeriel empfand plötzlich Mitleid für ihn, ähnlich dem, das sie bei ihrer ersten Begegnung mit den Geisterfrauen und den Ungeheuern empfunden hatte. Wie unter einem inneren Zwang berührte sie seine Wunde. »Tut es weh?«, fragte sie.
Der Vampir nahm die eisigen Hände von ihrem Gesicht, wich
ein Stück zurück und legte seine Finger auf die klaffenden Wunden. »Es brennt«, sagte er auffahrend und wandte sich halb von ihr ab. Er sprach nicht mehr gelassen. »Meine Mutter wird sie heilen. Ich werde morgen früh zu ihr gehen, und sie wird sie mit einem Silberfaden nähen.« Er warf Aeriel einen schiefen Blick zu. »Dann wird man es kaum noch sehen; auch den Flügel …«
»Sie heilen nicht von selbst?«, sagte Aeriel, ehe ihr einfiel, dass ohne Blut nichts heilen kann.
Der Engel der Nacht wandte sich nun ganz von ihr ab. »Nein.« Sein Ton war eisig. »Das ist nur ein geringer Preis, wenn man ein Vampir werden will. Meine Mutter wird das alles in Ordnung bringen.« Die Federn seiner Schwingen raschelten und legten sich wie früher zu einem tiefschwarzen Umhang zusammen. »Meine Mutter meint, ich sei viel zu schön, um mit Narben herumzulaufen.«
Der gebrochene Flügel wollte sich nicht an seinen Platz rücken lassen. Er versuchte, ihn mit der Hand zurechtzurücken. Aeriel konnte sein Gesicht nicht sehen. Sie berührte behutsam ihre Narbe am Hals und merkte dabei, dass auch der lange Kratzer an ihrem Unterarm verheilt war. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, sich wegen dieser Wundmale zu schämen. Schließlich hatten sich die Ma’a-mbai an den Lagerfeuern voller Stolz Geschichten erzählt, wie sie an ihre Narben und Wunden gekommen waren. Der Ikarus lief mittlerweile unruhig auf und ab.
»Von Rechts wegen«, murmelte er und zupfte noch immer an seinem verletzten Flügel herum, »von Rechts wegen sollte ich dich jetzt töten, weil du mir ungehorsam warst, weggelaufen bist
und mir diesen … diesen belanglosen Schaden zugefügt hast.« Er atmete tief ein. »Schließlich hat er sich als äußerst hinderlich erwiesen.« Seine Finger umklammerten den gebrochenen Flügel. »Und dann die Träume … Auch wenn sie jetzt vorüber sind.«
Fast wäre Aeriel einen Schritt zurückgewichen, als sein stechender Blick sie traf, bis ihr einfiel, dass sie am Rande des Abgrunds stand.
Der Engel der Nacht behielt sie weiter im Auge. »Ich hätte dich töten können, als du damals mit einem Messer in der Hand auf jenem Berggipfel standest. Doch gnädig wie ich bin, verschonte ich dich
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