Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
und brachte dich hier in mein Schloss.« Seine weißen Brauen zogen sich drohend über seinen eisfarbenen Augen zusammen. »Du aber hast es mir heimgezahlt, hiermit und damit.« Er berührte dabei seine Flügel und seine Wunden.
Aeriel starrte ihn an. Und während er so hin und her stolzierte, konnte sie nichts mehr von seinem alten Glanz, von seiner Anmut und Majestät entdecken, nur bösartigen Missmut und Bedrohung strahlte er aus. Er besitzt keine Macht mehr über mich, stellte sie fest. Vor sechs Monaten noch wäre ich vor ihm auf die Knie gefallen. Ihr Herzschlag hatte sich nach dem Aufstieg wieder beruhigt. Der warme Wind aus der Ebene blies ihr in den Rücken. Unbewegt blieb sie unter seinem starren Blick stehen.
»Wenn du mich jetzt tötest«, hörte sie sich fest und ohne Zittern sagen, »wer wird dann das Hochzeitsgewand für deine letzte Braut weben?« Genau das hatte sie schon vorhin sagen wollen.
Der Vampir blieb unvermittelt stehen. »Eine neue Braut«, murmelte er. »Ja.« Er schien durch ihre Worte abgelenkt und
ließ den verletzten Flügel sinken. »Ich muss mir bald ein neues Weib nehmen, noch diesen Monat.« Er sah Aeriel nicht länger an, sondern blickte quer über den Garten. »Sie wird meine letzte Braut sein.« Die Phiolen seiner bleiernen Kette klickten, als er nickte. »Bald werde ich zu meiner Mutter gehen und ihr meinen Tribut entrichten. Und wenn sie mich dann zu einem richtigen Vampir gemacht hat …« Er lächelte kalt; seine Stimme wurde samtig. »Ich werde so sein wie meine sechs Brüder, und wir werden die Welt unter uns aufteilen.«
Seine beiläufige Selbstsicherheit ließ Aeriel erschaudern. Oh, er ist böse, sagte sie sich und wünschte sich weit weg von ihm. »Ich muss gehen und sogleich mit der Arbeit anfangen«, sagte sie zu ihm, »wenn das Brautgewand bis zum Einbruch der Nacht fertig sein soll.«
Der Vampir drehte sich abrupt um, so, als wäre er durch ihre unerwarteten Worte sich ihrer plötzlich wieder bewusst geworden. Sie spürte den Windzug seiner wirbelnden Schwingen und erkannte, wie leicht er sie mit einer einzigen schnellen Bewegung seines Arms oder Flügels über den Felsrand in die Tiefe stürzen konnte. Als sie seinen zusammengepressten Mund und den starren Blick seiner Augen sah, fürchtete sie einen Moment, er könnte es tun, aber dann besiegte er sein Verlangen und atmete nur schwer. »Dann geh«, sagte er abrupt, »und webe!«
Aeriel sah ihn an, sie wusste, sie sollte dankbar oder überrascht sein, aber sie war weder das eine noch das andere, nur erleichtert. »Du lässt mich also leben?« Jetzt, wo er es ihr endlich zugestanden hatte, fiel ihr nichts anderes mehr zu sagen ein.
»Fürs Erste«, sagte er barsch. »Bis morgen.« Seine Stimme
klang seltsam hohl. »Ehe ich das Schloss morgen verlasse, werde ich dich erwürgen.«
Aeriel sah ihn an und schwieg. Sie weigerte sich, ihren Mut sinken zu lassen. Wenn der Vampir bis morgen früh nicht tot ist, dachte sie, dann ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Der Ikarus wandte sich von ihr ab und machte eine ungeduldige Entlassungsgebärde. »Scher dich fort!«
Aeriel ging von der obersten Steinstufe in den Garten und entfernte sich durch den blütenreichen, aber fruchtlosen Pflanzenwirrwarr. Doch als sie ging, hörte sie hinter sich das Rascheln seiner Schwingen.
»Ach«, hörte sie ihn murmeln. »Selbst dein Gang hat sich verändert. Du gehst aufrecht mit geraden Schultern wie eine Prinzessin und kriechst nicht mehr wie eine kleine Sklavin.«
Aeriel bekämpfte den Drang, vor seinem bohrenden Blick davonzulaufen und sich zu verstecken. Sie schritt unbeirrt weiter und drehte sich nicht um, denn sie fürchtete, dass er sie zurückrufen könnte. Außerdem traute sie seiner plötzlichen Ruhe nicht. Sie verwirrte sie. Dann seufzte er wie jemand, dem etwas Unbedeutendes abhandengekommen ist.
»Ein Jammer, dass ich dich töten muss!«
Aeriel gab nicht zu erkennen, dass sie ihn gehört hatte. Die Sanftheit seiner Worte erfüllte sie mit Abscheu. Zügig durchquerte sie den Garten und ging auf die Treppe zu, die hinunter in die Höhlen führte.
Der Zwerg erwartete sie am Fuß der Treppe mit einer Fackel in der Hand. Aeriel verspürte Freude im Herzen, als sie ihn sah. Das Gefühl der Eiseskälte, das der Engel der Nacht ihr vermittelt
hatte, ließ nach. Sie lächelte, ihr erstes Lächeln, seit sie den Pendarlon verlassen hatte. Der kleine Mann stieß ein überraschtes Schnauben aus, als er sie erblickte,
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