Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
bereitmachte. Dann glitt der Sonnenstern ganz langsam hinter die Berge, und das graue Buschland wurde schwarz. Aeriel wanderte weiter im fahlen Licht des Erdenlichts. Erst lange nach Sonnenuntergang gönnte sie sich wieder eine Rast.
Die Sterne zogen am Himmel gemächlich ihre Bahn. Der blaue Erdplanet über ihr wurde gegen Mitternacht voll, dann nahm er wieder ab, und die Wunde an ihrem Unterarm verheilte zu einer langen hellen Narbe. Der Halbmonat verging. Aeriel schleppte sich weiter mühsam voran, ruhte, aß, schlief, stand wieder auf und wanderte weiter, immer nach Süden. Visionen vom Engel der Nacht beherrschten ihre Träume.
Im grauen Zwielicht vor Sonnenaufgang sah Aeriel zum ersten Mal wieder das Schloss des Vampirs auf der Bergkuppe am Rand der Ebene. Ruhig ging sie weiter darauf zu, mehr betäubt als ängstlich, und erreichte den Fuß des Felsens bei Sonnenaufgang. Die Ungeheuer entdeckten sie, als es hell genug war. Sie fingen sofort ein schreckliches Geschrei an, genau wie damals, als der Engel der Nacht sie auf sein Schloss verschleppt hatte. Sie hörten sich hungrig und verzweifelt an. Aeriel wusste, dass niemand sie während ihrer Abwesenheit gefüttert hatte.
Sie fand die Treppe im Felsen, deren unregelmäßige Stufen in den Garten führten. Aeriel stopfte den Samtbeutel unter ihr Gewand und begann mit dem Aufstieg. Die Ungeheuer schrien weiter. Ihr war klar, dass der Vampir sie längst gehört haben musste.
Plötzlich entdeckte sie ihn. Er stand am Rand des Gartens, am Ende der Treppe; die Fäuste in die Hüften gestemmt und beobachtete sie. Seine bleiche Gestalt hob sich weich gegen den dunklen Sternenhimmel ab. Eine seiner Schwingen hing schief herunter. Aeriel fiel wieder der langsame Rückzug des Engels der Nacht nach seinem Kampf mit dem Sonnenlöwen ein. Dabei musste der Pendarlon ihm den Flügel gebrochen haben.
Der Ikarus flog nicht auf sie zu, er ließ sie kommen. Sie war noch zu weit von ihm entfernt, um sein Gesicht sehen zu können. Sie hielt den Blick auf ihre Füße gerichtet, während sie die schlüpfrigen unebenen Stufen hinaufstieg. Eins, zwei, zwölf … zwanzig. Bei siebenunddreißig zählte sie nicht weiter.
Plötzlich, stand er vor ihr. Aeriel hielt auf der letzten, obersten Stufe inne. Der Vampir versperrte ihr den Weg in den Garten. Sie stand kaum einen Schritt entfernt von ihm und sah ihn nicht an. Ihr Herz klopfte von dem langen, steilen Anstieg.
Der Vampir sagte: »Also bist du zurückgekommen.« Aeriel staunte. Seine Stimme hatte ihren glockenreinen Klang verloren. Jetzt hörte sie sich hohl und krächzend an. Wie konnte ich diese Stimme jemals schön finden?, dachte Aeriel. Der Vampir fragte: »Warum?«
Sie konnte kaum sprechen. »Ich konnte nicht fortbleiben«, brachte sie schließlich hervor, was ja der Wahrheit entsprach, und stellte fest, dass sie trotz ihrer Angst die Kraft hatte, ihm zu antworten.
Er gab einen Laut von sich, der sowohl Anerkennung wie auch Gleichgültigkeit oder Verachtung bedeuten konnte. Er schwieg eine Weile gedankenversunken, dann holte er plötzlich tief Luft. Seine Worte klangen seltsam erschüttert. »Ich wusste die ganze Zeit, dass du zurückkommst. Deshalb rettete ich dich auch nicht aus den Fängen des Pendarlon, der dich mir auf so unverschämte Weise entriss.« Er schlug mit der Faust in die Handfläche. »Ich hätte dich jederzeit zurückholen können.« Seine Stimme klang geschmeidiger und dennoch merkwürdig unsicher. »Aber früher oder später würdest du zurückkehren. Ich
gab dir die Chance, aus freien Stücken zurückzukehren, damit du erkennst, dass niemand mir trotzen kann.«
Aeriel schwieg. Sie schmeckte geradezu die Falschheit seiner Worte. Aus Feigheit hatte er sie dem Pendarlon überlassen, das hatte sie sogar erkannt, als sie verwundet auf dem Rücken ihres Retters gelegen hatte. Sie schnaubte verächtlich und starrte auf die Füße des Engels der Nacht. Einzig und allein Feigheit war es gewesen.
Er schwieg. Sie wagte nicht aufzusehen, doch hatte sie den Eindruck, dass er sie prüfend musterte. Plötzlich legte er ihr die Hände auf die Schulter. Ihre Knie gaben nach. »Wenn du mich jetzt tötest …«, begann sie hastig, mit bebender Stimme, und die Worte erstarben auf ihren Lippen, als sie den Kopf hob und das Gesicht des Ikarus nach so vielen Tagmonaten zum ersten Mal wiedersah.
Merkwürdigerweise besaß er keine Macht mehr über sie. Seine Augen waren dieselben farblosen Kristalle wie vorher, und seine
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