Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Schiffe draußen ankerten. Mit meinem Floß brachte ich die Güter an Land. Damals gab es Arbeit, und nie eine Havarie.« Der Hüter sah Aeriel prüfend an. »Du hättest dein Boot retten können, wenn du nur dem Richtstrahl gefolgt wärst.«
Aeriel schüttelte den Kopf. »Ich sah keinen Richtstrahl.«
Der Alte sah sie misstrauisch an. »Niemand findet die Fahrrinne rein zufällig«, sagte er. »Die Gottgleichen haben diese Türme errichtet. Um den Reisenden den Weg über Meer und Land zu weisen. Sie sind alle miteinander verbunden, wenn einer leuchtet, leuchten die anderen auch.« Der Hüter starrte in die Ferne und schüttelte den Kopf. Aeriel verstand nicht ganz. Wo waren die anderen Türme? Der Hüter seufzte.
»Aber die Leuchtfeuer brennen jetzt nur noch schwach. Seit die Pilgerreisen aufgehört haben, bekommen sie keine Nahrung mehr. Ach, ich weiß nicht. Ich muss wohl hundert Jahre oder länger geschlafen haben.« Dann nickte er. »Ja, sie brennen wirklich viel zu schwach. Aber ich habe ein Mittel dagegen. Gib acht.«
Aeriel trat zurück. Er legte den Aprikosenstein in die Mitte der Lichtkrone. Die Flammen zischten, flackerten von Blau zu Violett und wurden dann rosa.
Aeriel stand staunend da. Die Feuerzungen wurden länger, heller, verschmolzen zu einer großen Flamme. Ihre Farbe wechselte
zu Grün, zu Gelb, und das Feuer wurde noch größer, bis es so groß wie Aeriel war.
Noch einmal veränderte die Flamme ihre Farbe und erstrahlte in reinem Weiß. Trotzdem konnte Aeriel hineinstarren, ohne geblendet zu werden. Hoch brannte die Flamme über der Krone ohne zu flackern, obwohl der Wind heftig blies.
»Ach, das ist viel besser«, sagte eine Stimme neben ihr. Aeriel sah den Leuchtturmwächter, aber er hatte eine andere Gestalt angenommen.
Sein Gewand war nicht mehr zerschlissen und von einem leuchtenden Blau, das immer intensiver wurde. Der Alte war nicht mehr gebeugt, schien auch gar nicht mehr alt.
»Ach ja, viel besser«, sagte er wieder und hielt noch einmal seine Hände über die Flamme. »Wie einem doch die Kälte zwischen den einzelnen Reisenden in die Knochen fährt, und wie schläfrig man wird.«
Aeriel starrte ihn an. »Aber ich kann keine Wärme spüren«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Der Hüter blickte auf und sah sie an, als würde er sich erst jetzt wieder an sie erinnern. »Nein, natürlich nicht.« Er lächelte. »Das kannst du auch nicht, denn du hast von dem Baum gegessen, und deshalb kannst du jetzt auch das Leuchtfeuer sehen, im Gegensatz zu mir, denn ich habe jene Frucht nie gekostet. Übrigens, hat sie gut geschmeckt, deine Aprikose?«
»Sehr gut.« Sie hatte noch immer einen Nachgeschmack davon.
Der Hüter nickte. »Das habe ich von den anderen Reisenden auch gehört. Ich kenne den Geschmack nicht.«
»Aber warum?«, fragte Aeriel. »Der Baum wächst doch vor deiner Tür.«
Der Hüter lächelte und ging leichtfüßig bis zur Brüstung des Turms. Seinen Stock schien er nicht mehr nötig zu haben.
»Weil ich kein Reisender bin«, sagte er. »Ich wurde nicht fürs Reisen geschaffen; und der Baum trägt nur bei Bedarf Früchte: eine Frucht für jeden Reisenden, der das Sandmeer überquert.« Er seufzte und warf den Kopf in den Nacken. »Früher kamen sie in ganzen Scharen. Aber jetzt nicht mehr.«
»Und allein diese Aprikosensteine nähren das Licht?«, fragte Aeriel.
Der Hüter nickte. »Der Baum nährt das Herz der Welt; die Pilger nähren sich von seinen Früchten, die Flamme vom Herzen der Frucht, und ich von der Flamme.«
Aeriel sah den Hüter prüfend an. Er war von der Brüstung zurückgekommen und stand näher an der Flamme. »Bist du kein Sterblicher?«, fragte sie. »Brauchst du keine Speise?«
Der Hüter lächelte und schüttelte den Kopf. »Sterblich bin ich, aber nicht wie du. Ravenna schuf mich. Ich wurde nicht geboren.«
Aeriel hielt den Atem an. »Ravenna«, flüsterte sie, »Ravenna schuf die lons. Du bist der lon von Bern…«
Aber wieder schüttelte der Hüter den Kopf; doch diesmal lachte er. »Ich bin kein lon «, sagte er freundlich. »Bernalon ist die große Wölfin, die das Land bewacht und rastlos durcheilt, während ich mich nie von dieser Landzunge fortbewegt habe …«
Aber damit konnte sich Aeriel nicht zufriedengeben. Vielleicht brauchte sie nicht nach Orm zu reisen. Vielleicht konnte
sie über die lons etwas hier in Bern erfahren. Sie sah dem Hüter in die Augen.
»Wo kann ich sie finden – Bernalon?
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