Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
um.
»Aprikosendiebin!«
Die Stimme kam aus dem Turm hinter ihr. Die kleine Languste versteckte sich schnell in einer Falte ihres Gewandes. Eine alte, gebeugte Gestalt erschien in der Türöffnung neben dem Baum. »Diebin meiner Aprikosen, glaubst du, du könntest dich ungestraft davonstehlen?«
Die dünne Gestalt humpelte auf einen Stock gestützt auf sie zu. Aeriel starrte mit weit aufgerissenen Augen. Auf der Türschwelle wuchsen Grasbüschel. Der Turm stand dunkel da.
»Ich wusste nicht, dass hier jemand lebt«, fing sie an.
»Du wuustest es nicht?«, schrie der Alte. »Dachtest wohl, der Turm hätte sich selbst gebaut, wie?« Er ordnete die Falten seines langen, schäbigen Gewandes. »Man kann nicht einmal einen Moment dösen, und schon kommen Diebe …«
»Ich bin kein Dieb«, beharrte Aeriel. »Ich wusste nicht, dass der Baum dir gehört. Ich habe nur eine sehr lange Reise hinter mir und seit Stunden nichts mehr gegessen und getrunken.«
»Das geht mich nichts an!«, schnappte der Alte. »Nur Reisende, die das Sandmeer überquert haben, dürfen von meinen Aprikosen essen.«
»Ich bin über das Sandmeer gekommen«, sagte Aeriel.
Der Alte blinzelte. »Unmöglich. Seit Jahren hat niemand mehr diese Reise gewagt.«
»Ich bin erst vor ein paar Stunden gelandet«, entgegnete Aeriel. »Mein Boot ist an den Felsen zerschellt.«
Der Alte sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, humpelte dann zum Rand des Kliffs und spähte hinunter.
»Ganz recht. Ich sehe dein Boot«, murmelte er, als er zurückkam. »Total zersplittert. Ein Wunder, dass es dich nicht erwischt hat. Nun, in diesem Fall darfst du von der Frucht essen, aber du musst mir den Stein geben.«
Aeriel merkte, dass sie ihn noch immer in der Hand hielt. Der Alte entriss ihn ihr, ehe sie ihn daran hindern konnte. »Was machst du damit?«
Der andere schnaubte nur und drehte den Stein gedankenverloren in seinen knochigen Händen.
»Ich heiße Aeriel«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Und ich komme aus Isternes.«
Der Alte erwachte aus seinem Traum. »Du meinst wohl Esternesse? « Sie nickte. »Hm.« Er starrte sie wieder an. »Du trägst nicht die Tracht derer aus Esternesse.«
»Meine erste Heimat war Terrain. Dann lebte ich in Avaric. Dieses Gewand stammt aus Pendar.«
»Weit gereist«, murmelte der Alte. »Dann lebt deine Familie wohl in Terrain?«
Aeriel schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Familie. Ich wuchs ohne Mutter auf, wurde als Baby verkauft.«
»Verkauft?«, rief der Alte. »Verkauft?« Dann schüttelte er den Kopf und murmelte: »Harte Zeiten, wenn man Kinder in Terrain verkauft, und wahrscheinlich auch anderswo, wenn es in Terrain geschieht. Wie lange ich geschlafen habe.« Dann wandte er sich wieder an sie. »Aber wie ich sehe, bist du keine Sklavin mehr. Eine reisende Geschichtenerzählerin, bist du deshalb unterwegs? «
Aeriel griff nach ihrer Laute, die über ihrer Schulter hing. »Das möchte ich werden.« Der Alte schwieg, er schien wieder tief in Gedanken versunken. »Und wer bist du?«, wagte sie zu fragen.
Er seufzte. »Hm? Oh, ich hüte den Turm. Ich kümmere mich um den Baum.« Er humpelte auf die Tür zu. »Komm mit, wenn du sehen willst, was ich mit dem Stein mache.«
5
Der Hüter des Lichts
A eriel folgte dem Hüter in den Turm. Eine Wendeltreppe führte nach oben in die Spitze des Turms. Über ihnen wölbte sich ein Dach. Vom Sandmeer her wehte ein heftiger Wind. In der Mitte des nach allen Seiten offenen Raums stand ein dunkles Podium, auf dem ein Ring aus silbernem Metall lag, der wie eine Krone aussah. Aus jeder Zacke züngelte eine kleine blaue Flamme.
»Was ist das?«, fragte Aeriel und beugte sich näher. Die Flammen brannten geruchlos, ohne Rauch.
»Was das ist?«, wiederholte der Alte und wärmte seine Hände über den Flammen. Aeriel konnte keine Hitze spüren. »Das Signalfeuer natürlich. Dies ist ein Leuchtturm, Reisende. Was hattest du denn gedacht?«
»Leuchtturm«, murmelte Aeriel. Das Wort klang seltsam. »Was ist ein Leuchtturm?«
Der Alte schnaubte und pfiff. Erst nach einer Weile merkte Aeriel, dass dies seine Art zu lachen war. »Er weist den Seeleuten den Weg, damit sie unbeschadet die Untiefen und Riffe umsegeln
können, was sonst? Wie kannst du nur über das Sandmeer gekommen sein, ohne je von einem Leuchtturm gehört zu haben?«
Aeriel hatte keine Zeit zu antworten. Der Hüter seufzte.
»Ja, ich kann mich erinnern, wie vor langer Zeit, ehe der Verkehr aufhörte, die großen
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