Gefangene des Feuers
bereits weit mehr von ihr gesehen hatte. Also würde sie gerne seine Hose tragen, um ihre eigenen Kleider waschen zu können. Sie musste eben Prioritäten setzen - auch wenn sie damit ihre moralischen Grundsätze verletzte.
Er aß genügend von dem Frühstück, um sie zufriedenzustellen; sie hatte nicht erwartet, dass er überhaupt etwas essen würde. Danach brühte sie wieder Tee aus Weidenrinde auf, und er trank ihn ohne Widerrede. Dann legte er sich hin, damit sie seine Wunden untersuchen konnte. Während sie neue
Wegerichblätter für einen frischen Verband anfeuchtete, erklärte sie ihm, dass sein Zustand sich zum Tag zuvor wesentlich verbessert hätte.
„Also werde ich die Sache überleben“, bemerkte er.
„Nun, zumindest werden Sie nicht an diesen Wunden sterben. Morgen werden Sie sich noch ein Stück besser fühlen. Ich will, dass Sie heute so viel wie möglich essen, aber passen Sie auf, dass Ihnen nicht übel wird.“
„Jawohl, Ma’am.“ Am liebsten hätte er vor Begeisterung aufgeseufzt, als sie ihm den Verband anlegte.
Danach zog er sich an, allerdings spürte er ein Ziehen in der Seite, wo sie ihn genäht hatte, als er seine Stiefel anzog. Annie wusch derweil ab. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn in Mantel und Pistolengurt dastehen, das Gewehr in der Hand. „Holen Sie Ihren Mantel“, sagte er. „Wir müssen die Pferde füttern.“
Es gefiel ihr gar nicht, dass er so weit gehen wollte, aber sie sparte sich den Atem zu widersprechen - es war ohnehin sinnlos. Er hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, sie nicht aus den Augen zu lassen. Und sie könnte nichts dagegen tun, außer er würde das Bewusstsein verlieren. Wortlos nahm sie ihren Mantel und verließ vor ihm die Hütte.
Die Pferde waren unruhig, weil sie in einen derart kleinen Verschlag verbannt worden waren. Der große Braune stupste Rafe an, als er ihn aus dem Unterstand führte. Rafe wurde kalkweiß. Schnell nahm Annie ihm die Zügel ab. „Ich nehme beide Tiere“, sagte sie. „Konzentrieren Sie sich aufs Gehen. Nein, warten Sie, wir könnten auch reiten.“
Er schüttelte den Kopf. „Wir gehen nicht weit.“ Tatsächlich wäre er lieber geritten, fühlte sich jedoch noch nicht danach, sich jetzt schon in den Sattel zu schwingen.
Nach einer halben Meile fand er eine kleine sonnenbeschienene Wiese, keine fünfzig Yards im Durchmesser. Sie lag im Schutz eines Berges, der den kalten Wind abhielt. Während die Pferde begierig ihre Köpfe über das Wintergras beugten, setzten Rafe und Annie sich hin, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Es dauerte nicht lange, bis sie beide ihre Mäntel ablegten und ein wenig Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.
Sie sprachen nicht viel. Annie legte den Kopf auf die angewinkelten Knie und schloss die Augen, eingelullt von der wohltuenden Wärme und dem regelmäßigen Kauen der Tiere. Es war ein so stiller, friedlicher Morgen, dass sie ohne Weiteres wieder hätte einschlafen können. Nur das leise Rauschen des Windes oben in den Bäumen, die Rufe der Vögel und die Pferde waren in der Stille zu hören. In Silver Mesa war es nie so still gewesen. Immer schien irgendjemand auf der Straße zu sein, weil die Saloons anscheinend rund um die Uhr geöffnet waren. Ihr war der Lärm nie bewusst aufgefallen, weil sie die Geräusche der Stadt gewohnt war. Doch jetzt wurde ihr bewusst, wie unharmonisch und störend der ständige Lärmpegel war.
Als er hin und her rutschte, merkte sie erst, dass Rafe unruhig geworden war. Sie öffnete die Augen. „Unbequem?“
„Ein bisschen.“
„Dann legen Sie sich hin. Das sollten Sie sowieso.“
„Mir geht es gut.“
Auch diesmal unterließ sie es, ihm zu widersprechen. Stattdessen sagte sie: „Wie lange wollen Sie die Pferde denn grasen lassen? Ich habe nämlich noch sehr viel zu tun.“
Er warf einen Blick zur Sonne, dann sah er zu den Pferden. Annies Wallach hatte aufgehört zu fressen. Friedlich stand er da, den Kopf erhoben und die Ohren beim Klang ihrer Stimmen interessiert gespitzt. Der Braune graste immer noch, aber eher halbherzig, weil sein größter Hunger wohl bereits gestillt war. Rafe hätte die Pferde gerne auf der Wiese gelassen, aber er durfte nicht riskieren, so weit von ihnen entfernt geschnappt zu werden. Vielleicht würde er sich am nächsten Tag stark genug fühlen, um eine kleine Koppel abzustecken, damit die Pferde sich ein bisschen freier bewegen könnten als in dem kleinen Unterstand. Er brauchte nicht viel dazu, nur ein paar
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