Gefangene Seele
dass es so lange her sei, dass wir drei einmal zusammengesessen haben.”
“Sag mir einfach, wann es euch passt, dann komme ich vorbei.” Luke stand auf. “Wenn dir noch etwas einfällt – irgendetwas – ruf mich bitte sofort an. Warum telefonierst du nicht mit deiner Freundin Deb und fragst sie, ob sie sich noch an etwas erinnert?”
“Gute Idee”, stimmte Shelly zu. “Ich melde mich bei dir.”
Wenige Minuten später war Luke schon wieder unterwegs. Shelly blieb mit guter Laune und einer Küche voller schmutzigem Geschirr zurück.
Aber Lukes Aufgaben für diesen Tag waren noch nicht ganz bewältigt. Das Porträt lag auf dem Rücksitz seines Wagens. Er war auf dem Weg zum St. Louis Police Department. Dort arbeitete ein Detective, der ihm noch einen Gefallen schuldig war, und Luke hoffte, das dortige Labor nutzen zu können.
Wenn er Glück hatte, gab es noch Fingerabdrücke auf dem Bild, die als Spur dienen konnten. Das war zwar weit hergeholt, aber er konnte es sich nicht leisten, diese Chance nicht zu nutzen.
Raphael saß auf dem Sitz am Gang, als sie mit dem Bus in Richtung New Orleans fuhren. Wie immer hatte er sich zwischen Jade und der Welt platziert. Sie war neben ihm eingeschlafen, ihr Kopf ruhte an der Fensterscheibe. Die Düse der Belüftung war direkt auf ihre Schulter gerichtete, und Raphael war sich sicher, dass sie frieren musste. Also griff er nach oben und richtete die Düse zur Seite.
Obwohl Jade schlief, spürte sie, dass der Luftstrahl nicht mehr auf ihre Wange traf. Sofort erinnerte sie sich unbewusst an eine sehr schlimme Szene aus ihrer Kindheit.
Es war beinahe Mitternacht im San Fernando Valley, wo sich die People of Joy inzwischen angesiedelt hatten. Das alte Farmhaus, in dem sie zusammen lebten, gehörte einem entfernten Verwandten eines der Mitglieder. Dieser wusste davon allerdings nichts, denn er lag aufgrund eines Schlaganfalls, der ihn ans Bett fesselte, im Krankenhaus. Bis ihn der Tod erlöste, würde er ein Pflegefall sein.
Die Zimmer, in denen die Kinder schliefen, lagen ganz am Ende eines langen Flures, der sich durch das große Haus zog. Wahrscheinlich sollten sie dort ihre Ruhe haben. Aber einige der Kinder sahen das anders, denn so waren sie von den übrigen Räumen des Hauses isoliert. Daher war es für Solomon leicht, eines der Kinder für die jeweiligen “Kunden”, die von Zeit zu Zeit kamen, auszuwählen.
In jener Nacht teilte sich Jade das Bett mit einem kleinen Mädchen, das alle Sunshine nannten. Sie war blond und untersetzt und manchmal machte sie noch nachts ins Bett. Jade mochte sie gern, aber sie schlief immer ganz am Rand des Bettes, um nicht nachts in der Lache von Sunshine aufzuwachen.
Es war heiß und das quietschende Geräusch, mit dem sich der Ventilator bewegte, und der stetige Luftzug beruhigten die siebenjährige Jade irgendwie. Es gab also immer noch Dinge, von denen keine Gefahr ausging.
Jade träumte gerade von den Blaubeeren, die sie tagsüber gepflückt hatten. Sie waren süß und saftig. Doch plötzlich veränderte sich etwas in ihrem Traum. Die Brise, die sie bisher auf ihrem Gesicht gespürt hatte, war verebbt. Das war schon früher passiert und bedeutete nichts Gutes. Sie wand sich im Schlaf. Jade wusste, dass sie etwas nicht vergessen durfte – was musste sie noch tun, wenn der Wind nicht mehr blies? Sie schlief so tief, dass sie sich nicht regen konnte.
Neben ihr bewegte sich jemand auf der Matratze. Sie wusste sofort, dass Gefahr drohte und schreckte mit einem Ausruf auf.
“
Shh”, flüsterte eine Stimme neben ihr. “Alles gut, mein hübscher Liebling. Alles ist gut. Sunshine hat ins Bett gemacht, ich bringe dich jetzt in ein trockenes.”
Jade kannte diese Stimme, es war Solomon. Sie wusste auch, dass es ihm gleichgültig war, ob sie in Sunshines Pipi schlief. Deshalb hatte der Wind aufgehört zu wehen. Jedes Mal, wenn er sich über sie beugte, um sie aus dem Bett zu heben, stand sein Kopf zwischen dem Ventilator und ihr und hielt den Luftzug ab.
Er würde sie wieder in das lilafarbene Zimmer tragen. Aber sie wollte nicht in das lilafarbene Zimmer gehen! Dort waren immer die Onkel.
“
Nein!”, schrie sie und begann, ihn wegzuschubsen. “Ich will nicht in das lilafarbene Zimmer. Bitte, Solomon, ich will nicht. Ich will nicht da hin!”
“
Pst, Liebling. Du weißt doch, es geschieht dir nichts. Solomon passt auf seine kleine Prinzessin immer gut auf.”
“
Nein!”, flehte Jade. Sie strampelte, um sich aus
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